Ähnlich
wie der berühmte Wagnersänger, Komödiant und Hitlerablehner Leo Slezak beim
Erscheinen des ersten Teils seiner Erinnerungen „Meine sämtlichen Werke“ (1922
bei Rowohlt) förmlich versprach keinerlei weitere schriftliche Ergüsse von
sich zu geben, dieses Versprechen aber schon 1927 mit dem Erscheinen des „Der
Wortbruch“ brach, melde ich mich zurück. Nicht dass ich mich mit Leo Slezak, dessen Schriften ich
schon in meiner Jugend verschlang, vergleichen kann – nur schon beim Singen
happert’s gewaltig. Warum diese Einführung?
Mein
Problem mit dem Problem
Immer
wieder versichere ich meinen Freunden und mir selbst, mein Tagebuch aufzugeben,
nicht mehr über Israels Politik und seine Überlebensanstrengungen in einer
Region des Grauens zu schreiben. Auf alles auf Israel, seiner Umgebung und den
Zionismus bezogene zu ignorieren. Doch das geht einfach nicht. Ich komme davon
nicht los, ich bringe es nicht fertig mich davon abzunabeln. Der mit dem Thema
einhergehende emotionelle Stress lässt sich nicht lösen, abschalten geht nicht
– ich bin dem Thema verfallen. In völligem Gegensatz zur vielerorts üblichen
aber falschen Meinung, Israelis würden in einer künstlichen Blase leben, in der
sie das um sie herum Vorgehende nicht wahrnähmen, verfolgen wir die blutigen
Kriege rund um uns herum nicht nur mit Interesse, sondern auch mit Sorge. Nicht
nur mit Sorge um unser Land. Während Israel versucht sich aus den Kriegswirren
in Syrien, im Libanon, im ägyptischen Sinai, Jemen und noch weiter entfernt
herauszuhalten, es unauffällig Tausende arabischer Kriegsverletzte in seinen
Spitälern rettet und gesund pflegt.
Ich
bin nach wie vor überzeugt, dass Israel, der heutige Staat der Juden,
unübersehbar die grosse Erfolgsstory der zwanzigsten Jahrhunderts darstellt.
Der Kontrapunkt zum Nationalsozialismus, der alles tat uns Juden zu vernichten.
Der Zionismus ist älter als der Staat Israel und ist seine Grundlage, ohne die
er nicht erstanden wäre, Hitler hin oder her. Und wir Juden (wenigstens die meisten
unter uns) sind daran beteiligt.
Hass zur Kultur erhoben
Nur
eben, nach den Jahrzehnten seit der Staatsgründung in 1948, nach dem
unglaublichen Wachstum der Bevölkerung, der Wirtschaft und der sozialen
Diversität sind schon seit längerer Zeit gewisse Entwicklungen des Staates zu
beobachten, die mir grosse Sorge machen. Der Mittlere Osten, von dem wir ein
nicht von allen geliebter Teil sind, ist stetig noch totalitärer, noch
gewalttätiger und noch islamistischer geworden. Wir leben in einer von Hass
geprägten Umgebung – Hass gegen Ungläubige (das sind immer die anderen, die
einem anderen Aberglauben frönen), Hass gegen sich selbst und Hass gegen uns
Israelis und uns Juden ganz allgemein. Die arabische Welt hat Hass als Kultur
gepachtet und in neue Höhen geführt. Ihr Hass gilt all dem, mit dem sie sich
nicht messen kann. Der Nahe Osten und die islamische Staaten bilden heute die
gewalttätigste Region der Welt, eine nicht zu übersehende Situation. Wer schuld
daran ist – darüber wird gestritten, obwohl die Quellen dieser Gewalt klar und nicht
zu übersehen sind: totalitäre Religionen, Ignoranz und Bildungsresistenz,
enormer sozialer und wirtschaftlicher Rückstand, Widerstand gegen Moderne und
Fortschritt (natürlich mit Ausnahme im Waffenkonsum). Daran können auch die
noch immer zu hörenden Beschuldigungen aus noch nicht erwachsenen Kreisen
nichts ändern, die den längst verflossenen Kolonialismus dafür verantwortlich
machen.
Jüdische Erfahrungen
Der
politische Zionismus wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Theodor Herzl
gegründet. Auslöser war der
Antisemitismus rund um den Dreyfus Prozess in Frankreich. Aus der Idee wurde
1948 der Staat Israel. Der Holocaust war nicht die Begründung der zionistischen
Ideologie, sondern Auslöser ihrer Verwirklichung, wohl früher als eigentlich
vorgesehen. In diesem Zusammenhang möchte ich die von vielen Juden geteilte und
selbst erlebte fast schon komisch anmutende Tatsache erwähnen, dass uns vor dem
Entstehen des eigenen Staates nahegelegt wurde: „haut ab nach Palästina!“, das
dann, nach Entstehen eben dieses Staates mit Namen Israel, nach wenigen
Jahrzehnten abgeändert wurde in: „haut ab wo ihr hergekommen seid!“.
Anderer
Massstab für die Kleinen
Ein
anderer Punkt, der mir gesamthaft gesehen, Bauchschmerzen verursacht, sind die
verschiedenen Massstäbe an geschichtliche Geschehnisse. Eigentlich ist es so,
dass das Auslösen eines Krieges und dessen Verlust dazu führt, dass der
Angreifer einen Preis zu zahlen hat. Kriege verlieren kann teuer sein. Das
können immense materielle Reparationen sein, Gebietsverluste und
Flüchtlingsströme. Paradebeispiele sind die Gebietsverluste Deutschlands
(Ostpreussen, Elsass etc.) und der k. und k. Monarchie Österreich-Ungarn
(Unabhängigkeit Ungarns, Tschechoslowakei, Südtirol ging an Italien etc.) nach
dem Ersten Weltkrieg als Folge der Kapitulation dieser zwei Staaten. Es mag
sein, dass die fast völlige Vernichtung der deutschen Wirtschaft und Industrie
und die dem folgende wirtschaftliche Not Hitler einen Karriereschub schenkte,
da durch die Folgen des verlorenen Krieges die Verbitterung des deutschen
Volkes gewaltig gestiegen war. Sie führte zum Nazismus, der durch seinen
Holocaust, sein Vernichtungskrieg gegen slawische Völker, seinem Überlegenheitsanspruch
des Deutschtums (dem sich ironischerweise eine nicht geringe Zahl deutscher
Juden bis zum Amtsantritt Hitlers ebenfalls verschrieben hatten). Deutschland
wurde nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs besetzt und blieb für Jahrzehnte
unter den Siegermächten aufgeteilt. Damit verhinderten die Alliierten eine
Wiederholung des Revanchismus wie nach dem Ersten Weltkrieg. Es ist bis jetzt
nicht ganz klar, wie weit das heutige Deutschland heute wieder ein völlig
souveräner Staat ist und wie weit die Aufsicht der vier Siegermächte von 1945
noch besteht.
Mit
der Situation Deutschlands komme ich zum in’s Auge stechenden Vergleich mit
Israel und seinem Besetzungsproblem bei den Palästinensern der Westbank und
Gazas. Es scheint, das all das oben Beschriebene für die gesamt Welt gilt –
ausser für Israel. Israel wurde 1948 von arabischen Ländern und den damalig
heimischen Arabern angegriffen. Das Ziel des Angriffs war den gerade
entstandenen modernen Staat der Juden zu zerstören und sämtliche dort lebenden
Juden zu vernichten. Der Angriff misslang, bei Kriegsende war Israel wesentlich
grösser als es die UNO Resolution 181 vorsah.
Warum Israel militärisch nicht abziehen kann
Das
wiederholte sich 1967. Ägypten, Syrien und Jordanien griffen mit dem selben
Kriegsziel wieder an und wieder verloren sie Gebiete. Wieder gewann Israel
einen Krieg aber keinen Frieden. Seither sitzt Israel im ehemaligen
Westjordanland (Westbank oder gar Palästina genannt), den Gazastreifen hat es
inzwischen verlassen. Ihm wird von der Welt genauestens auf die Finger gesehen.
Die Welt und viele Israelis verlangen den Abzug Israels aus den besetzten
Gebieten. Heute ist Gaza zum Paradebeispiel und einzig gültigem Grund geworden,
dass dem heute nicht entsprochen werden kann. Das Risiko eines Abzugs Israels
aus der Westbank ist noch grösser, als es der israelische Abzug aus Gaza war.
Wenn man dieselben Massstäbe anlegt (andere gibt es nicht), ist es klar, dass
palästinensische Gebiete in der heutigen Zeit nicht allein sich selbst überlassen
werden können. Anders als seinerzeit in Deutschland, in dem die Naziideologie
fast völlig zerstört wurde, lebt der von Islamismus und palästinensischem
Faschismus unterstützte Juden/Israelhass und Terror, der öfters nach Israel
überschwappt und schon Tausende von jüdischen und nichtjüdischen Opfer
gefordert hat. Es wäre vielleicht
möglich, Siedlungen in der Westbank abzuziehen, doch die militärische Besetzung
muss weiterbestehen, da sonst sofort eine identische Situation, wie sie heute
in Gaza besteht entstehen würde. Wie die Alliierten es in Deutschland seit 1945
vorführen, ist es für Israels Sicherheit unumgänglich, in palästinensischen
Gebiet eine militärische Präsenz weiterzuführen. Genau so wie kaum jemand
verlangt, dass Russland beispielsweise die Krim an die Ukraine zurück gibt (der
Vergleich hinkt, da die Krim den Russen nie den Krieg erklärt hat und keinerlei
Gefahr für Russland darstellt), kann von Israel nicht erwartet werden, die
Sicherheitskontrolle über die Westbank aufzugeben, da sie ein tatsächliches und
enormes Risiko für Israel darstellt. Sogar wenn der Eindruck besteht arabische
Welt habe sich mit der jüdischen Präsenz in der Region abgefunden, ist der
Einfluss Irans und vieler arabischer Terrororganisationen so stark wie nie
bevor. Russland ist riesig und mächtig, Israel ist winzig und gerade noch eine
Regionalmacht in einer Gegend verrückter Völker und Religionen. Russlands
Existenz ist nicht bedroht, Israels Existenz ist es seit seiner
Gründung.
Ich
bin stolz Teil des zionistischen Projektes sein zu dürfen. Mit vielem der
israelischen Politik bin ich nicht einverstanden, es wahr wohl ein Fehler die
Westbank zu besiedeln, statt nur unter militärischer und politischer Kontrolle
zu halten. Die politische Entwicklung in Israel und seinem wachsenden Hang zum
Autoritarismus aus extremistischen religiösen Kreisen und dem damit verbundenen
Hang zur faschistischen Ideologie des Etatismus, wie er auch von nicht
religiösen Kreisen vertreten wird, gibt mir zu denken. Noch ist Israel ein
leuchtender Stern in der Finsternis der mittelöstlichen Gesellschaft, die sich
mit Riesenschritten in das ebenso finstere Mittelalter zurück bewegt, doch wird
es das auch weiterhin bleiben?