In meinem Tagebucheintrag vom 7.5.2008 schrieb ich über den Artikel „Böses Israel“ von Reto Wild im Tages-Anzeiger Magazin 2000/20. Ich wies auf die dummen antisemitischen Leserbriefe hin. Ich amüsierte mich darüber, doch das war falsch. Inzwischen sind im TagiMagi Leserbriefe erschienen, die nahtlos an die Rassenpolitik und Ideologie des Dritten Reiches anschliessen. Ich rief die Redaktion heute darüber an, sprach mit dem stellvertretenden Chefredaktor, der so schien mir, aus allen Wolken fiel, und innert kurzer Zeit wurde der Artikel mitsamt allen Leserbriefen aus dem Website entfernt. Vorsichtshalber hatte ich das gesamte Dossier, Artikel und alle Leserbriefe, vorher ausgedruckt. Ich hoffe sehr, dass die Chefredaktion des Magazins in der Samstagsausgabe des Tages-Anzeigers eine eindeutige Stellungnahme zur Tatsache, dass nationalsozialistisches Gedankengut in ihrem Website veröffentlicht wird, erscheinen lässt. Es ist mir wichtig zu sehen, wie der Tagi zu diesen skandalösen Leserbriefen und zu dieser braunen Welle Stellung nimmt.
Ich persönlich hatte während meiner Jugend und auch später wenig antisemitische Erlebnisse. Damals spielte Scham noch eine Rolle, Antisemitismus wurde unterdrückt, latent war er, so wird heute bewiesen, stets vorhanden. Jetzt, da Israel zum Bölimann der Welt stilisiert worden ist, sind die Bremsen des Anstands gelöst und der Antisemitismus der Gegenwart, als Antiisraelismus getarnt, ist hoffähig geworden. Israel machte im Laufe seiner Geschichte viele Fehler, der grösste davon ist die Besiedlung der Westbank. Um es ganz klar zu stellen: damit meine ich nicht die Besetzung dieses Gebietes in einem Verteidigungskrieg, der ihm aufgezwungen worden ist, sondern die Besiedlung aus religiösen und mythischen Gründen, die mit der Sicherheit des Landes nichts zu tun hatten. Das Herrschen über ein anderes Volk, die Palästinenser oder wie immer man sie auch nennen will, hat unseren Staat moralisch geschädigt. Schon Yeshayahu Leibowitz, ein gesetzestreuer Denker und überzeugter Zionist, bezeichnete die Besetzung als "Gewaltherrschaft über die Palästinenser" und sah darin eine Bedrohung des demokratischen Charakters des Staates Israel. L. kritisierte vor allem die Verbindung von Staat und Religion in Israel und eine Instrumentalisierung der Religion durch den weltlichen Staat. Das ist auch der wesentliche Grund, um grundsätzlich einen Abzug der jüdischen Siedlungen aus diesem Gebiet voran zu treiben. Aber, mit der Feindschaft der muslimischen Welt gegen Israel und das jüdische Volk als Ganzes hat das wenig zu tun. Der über Hundert Jahre alte Hass, der heute herrschende Islamismus mit seiner Feindschaft gegenüber der gesamten westlichen Welt, dem Judentum und dem Christentum, dieser islamistische Hass, der den Streit um Land um die entscheidende religiöse Komponente erweitert hat, lässt einen militärischen Abzug aus der Westbank nicht zu. Israel hat aus seinem, auch von mir und der Mehrheit der Israelis gewollten, völligen Abzug aus Gaza, gelernt. Ein judenfreies Westjordanien würde von islamistischen Terroristen übernommen und wir hätten eine Situation, wie sie heute in Gaza besteht: Raketenhagel auf israelische Zivilisten. Dazu stelle ich mir allerdings die Frage, warum soll das kommende Palästina eigentlich judenfrei sein – unsere israelischen Araber sind (wenigstens vor dem Gesetz) volle Bürger des Staates.
Einer der Schreiber nazistischen Gedankengutes im TagiMagi, sich tapfer anonym als Fux Uli ausgebend, möchte die Juden der gesamten Welt, vor allem jenen der USA, Israels und der Schweiz in einem völlig unbewohnten Teil der Erde ansiedeln, er schlägt die Antarktis vor. Meine Freundin Hanna Zweig schrieb mir dazu folgendes:
Juden in die Kälte - Nazipläne
In der Literatur wird ausführlich beschrieben, dass die Nationalsozialisten nach ihrer „Machtergreifung“ eine stufenweise sich steigernde Isolierung, Entrechtung, Beraubung und Vertreibung der Juden betrieben. Diese weitete sich vom „Deutschen Reich“ über „Grossdeutschland“ und nach Kriegsbeginn auf die besetzten Staaten und die Satellitenstaaten aus. Die Nazi-Ideologie trachtete danach, „judenreine“ Gebiete zu schaffen.
Zwei Varianten, die im Leserbrief des „Fux Uli“ aufgegriffen werden, gehen auf die nationalsozialistischen Vorschläge vor dem Sommer/Herbst 1941 zurück: Weit bekannt ist der sog. Madagaskar-Plan, der schon vor Kriegsbeginn, besonders dann nach dem Zusammenbruch Frankreichs 1940 unter den Nazi-Grössen im Gespräch war. Sie stellten sich dabei ein riesiges Konzentrationslager unter SS-Aufsicht vor, in welchem die dorthin deportierten Juden durch die klimatischen Verhältnisse, durch Hunger und Seuchen dezimiert werden sollten. Auf Grund der Kriegslage, besonders der Haltung Grossbritanniens, aber auch aus weiteren logistischen Gründen erwies sich diese „Lösung der Judenfrage“ als undurchführbar.
Im März 1941 wurde von Heydrich und Alfred Rosenberg ein weiterer Plan vorgestellt: Die Deportation „aller“ europäischer Juden in den hohen Norden Russlands. „Rosenberg selbst erwähnte etwas Derartiges in einer Rede vom 28. März, in der er von der Deportation der Juden Europas unter
[...] Nach Beginn des Feldzuges erwähnte Hitler den neuen Territorialplan mehrfach [...] Es erscheint nahezu sicher, dass Hitler den Abschluss des Ostfeldzuges abwarten wollte, bevor er einen endgültigen Entschluss fasste.
[1] Götz Aly, Endlösungen, Völkerverschiebung und der Mord an den deutschen Juden, Frankfurt a.M. 1995, S. 195-201. zitiert nach Friedländer, Die Jahre der Vernichtung, Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945, München 2006, S. 162
[1] Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung, S. 162. Friedländer merkt dazu an: „Es gibt keinen direkten Hinweis auf das Datum, an dem Heydrich Görings Befehl (d.h. Hitlers Befehl) erhielt, eine neue territoriale Lösung der Judenfrage anstelle des Madagaskar-Plans vorzubereiten. Auf der Grundlage von Dokumenten, die von Eichmanns Vertreter in Paris, Theodor Dannecker, und von Eichmann selbst stammen, muss der Befehlt aber irgendwann Ende 1940 ergangen sein. Götz Aly, Endlösungen S. 271-274
Um zu zeigen, wie wenig sich der heutige Schweizer Antisemitismus vom früheren unterscheidet, präsentiert Hanna Zweig Dokumente, die sie auf der Suche nach persönlichen, sie selbst betreffende Informationen im Bundesarchiv fand. Sie beschreibt, wie wenig lernfähig Schweizer Offizielle schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren, nachdem die sie, wie alle in Besitz der fürchterlichen Informationen über die 60 Millionen Opfer dieses Krieges waren und besonders den Holocaust in jeder Einzelheit zur Kenntnis nehmen mussten.
Geistige Landesverteidigung nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Stimme eines kantonalen Polizeikommandanten am 22. Mai 1947:
Es ist bedauerlich, dass es so viele Leute gibt, die sich augenscheinlich gar keine Vorstellung machen, welche Auswirkungen Einbürgerungen haben und welches die Folgen für unser Land und Volk sind. Die schlechte Erfahrung mit vielen Eingebürgerten dürfte doch die beste Lehrmeisterin sein und wenigstens die Behörden zu äusserster Vorsicht mahnen. Darauf ist keine Rücksicht zu nehmen, dass denen das rechte Verständnis abgeht, die sich für Bewerber einsetzen. Es ist auch nicht zu erwarten, dass alle aus der Vergangenheit lernen.[2]
Warnte der Polizeikommandant vor einem Verbrecher, einem Tunichtgut oder gar einem Kommunisten ? Aber nein, es ging um ein 16-jähriges staatenloses Judenmädchen, gegen welches vom Direktor der Schule, das es besuchte, zwar „klar zu fassende Vorwürfe nicht gemacht werden können“, nichtsdestotrotz „unser Urteil in der Schwebe bleibt, auch deshalb, weil viele Erfahrungen der letzten Jahre die gerechte Erfassung rassenmässig anderer Menschen als schwierig und unsicher“ beurteilt wurde.[3]
Der Pädagoge konnte sich auch ein Jahr später nicht von seinem Rassismus distanzieren, denn nun schrieb er: „Geblieben ist die starke Betonung des rein Intellektuellen und ein Zurücktreten des Gefühlsmässigen, was z. T. rassebedingt sein mag.“[4]
[1] Kommando des aarg. Polizei-Korps an Polizeidirektion Aarau, StaAAG 10057 B.21.
[1] Rektor der Kantonsschule an die Justizdirektion, 1. März 1948, StaAAG 10057 B 21.
3 Rektor der Kantonsschule an Justizdirektion, 24. Jan. 1949, StaAAG 10057 B.21.
Seit wir in Israel leben, haben wir in der Schweiz eine beträchtliche Zahl neuer Freunde gewonnen. Uris Tagebuch spielte und spielt dabei eine Rolle. Diese Freunde sind Nichtjuden und Juden, wobei ich gestehen muss, dass sich in meiner Erfahrung der vergangenen acht Jahre, nichtjüdische Freunde und Bekannte furchtloser und draufgängerischer mit dem wieder erstarkten Antisemitismus befassen, Israel aktiv und vor allem öffentlich unterstützen. Dabei sind nicht nur Mitglieder des GSI (Gesellschaft Schweiz-Israel), sondern auch Leute aus Medien, Politik und Private. Deswegen ist die heutige Situation nicht mit derjenigen vor siebzig Jahren zu vergleichen. Ob antisemitische Psychopaten - denn Antisemitismus ist eine psychische Erkrankung, die man sich aber nicht gefallen lassen muss - behandelt werden können, weiss ich nicht, sich aber von ihnen einschüchtern zu lassen kommt nicht in Frage. Das hat Israel mich gelehrt.