Freitag, 27. Januar 2017

Bekenntnis und Neuanfang

Hab ich das nötig? 

Viele Jahre führte ich Uris Tagebuch, erst als E-Mail, später als Blog. Dazu kam meine Mitarbeit beim „Journal21“, bei dem ich bis heute unzählige Artikel veröffentlicht habe. Ich hatte zu berichten und zu vielem Stellung zu nehmen. Doch vor einigen Jahren fiel es mir laufend schwerer, mich mit der Materie zu befassen, der arabisch-islamische Hass auf Israel und das weltweite Judentum und dem dümmlichen, aber wachsenden Antiarabismus und Antipalästinismus verschiedener einflussreicher nationalistischer Kreise Israels verursachten mir Motivationsstörungen und Bauchschmerzen. Dann kamen die unzähligen Hassbriefe von Schreibern, die öffensichtlich nichts besseres zu tun haben, als ihren Selbsthass in Hass und Lügen mir gegenüber zu kanalisieren. Für jedes Medium finden sich selbsthassende Spezialisten die alles tun ihre Ignoranz und ihren Menschhass (in diesem Fall ihren Judenhass) am Author herauszulassen. Ich frage mich heute: „Habe ich das nötig?“. Die Antwort ist nein. Mein Masochismus hält sich in Grenzen, auch wenn mir klar gemacht wurde, dass Hassreaktionen beweisen, dass meine Schreiberein tatsächlich gelesen werden. Ich will nun mein Tagebuch fortführen, doch weniger über Politik, dafür mehr über eigene Erfahrungen im Lande der Väter und das Leben eines Schweizer Pensionärs in Israel. Seit die NZZ  heute hier in Israel von Ueli Schmid vertreten ist, kann ich mir meinen Senf grossenteils sparen – er schreibt unvergleichlich besser, besitzt den gewünschten Durchblick und macht das übliche Duckmäusertum ausländischer Pressevertreter nicht mit.

Der Neuanfang

Vor über vier Jahren zogen Lea und ich aus unserer schönen grossen Wohnung in Zichron Yaakov in eine sogenannte „Alterresidenz“. Das aus gesundheitlichen Gründen. Diese Alterresidenz heisst „Dor Tivon“ und liegt in Kirat Tivon, am Rande des biblischen Emek Yesreel. Wir leben in einem grossen Haus, zusammen mit rund 250 weiteren Pensionären. Wenn ich gefragt werde, wie es denn so sei in dieser riesigen Institution, wie es denn so sei mit weiteren 250 Pensionären zu leben, von den fast alle älter sind als ich, erkläre ich, dass wir an einem Ort leben, der eine Kreuzung zwischen einem Luxushotel und einem Kibbutz sei. Ausnahmslos alle unserer noch immer zahlreichen Gäste sind überrascht, ja begeistert – einem ähnlichen Ort in der Schweiz gleiche es nicht. Vor allem im amerikanischen Florida gibt es solche Institutionen. Weit grösser als unser Dor Tivon – ich besuchte dort ein „Protected Living“ in Dearfield Beach in dem rund zwanzigtausend Alte (auf Amerikanisch-Jiddisch AKs – Kurzform für alte Kacker genannt) leben, weitgehend selbständig, mehrheitlich jüdisch – autofahrend, selbst einkaufend und kochend, Golf spielend auf einem der drei 18-Loch Golfplätze und ähnlichem. Ähnlich ist es bei uns – doch alles in weit kleinerem Masse und ohne Golfplatz. Doch gibt es sehr viele Aktivitäten, von denen ein beträchtlicher Teil durch die Pensionäre selbst organisiert und ausgeführt wird. Ich schwimme fast täglich, besuche und gebe Vorträge (über Jazz und Blues) und hatte in einem der drei grossen Eingangshallen (Lobbies) eine Fotoausstellung hängen – fast drei Jahre lang. Mit viel Erfolg und (nur guten) Kritiken, sogar in der Lokalpresse.

Mit einem Fuss im Grab

Wenige Tage nach unserem Einzug lief ich mit meinem Zichron Yaakover Freund Arie der Nagar (Schreiner) durch den langen Korridor, der die vielen Einrichtungen verbindet und kamen an der Caferia vorbei. Eine grössere Zahl älterer Damen sassen beim Kaffee und riefen mir, dem noch unbekannten Neuling, zu: „Bist du allein?“ Uri, höflich wie immer, antwortete, er sei glücklich verheiratet, nur sei seine Frau Lea gerade bei ihrer Schwester im Kibbuz. Dann gingen wir weiter und ich sah wie Freund Arie neben mir grosse Mühe hat, nicht zu lachen. Als wir genügend Abstand zur Cafeteria erreicht hatten, pustete er los. Er, der rund zwanzig Jahre Jüngere, erklärte mir, dass hier Männermangel herrsche und meine Person Interesse bei alleinstehenden Damen geweckt haben müsse. Das sei normal. Ein Paradies für uns Männer.
Doch das Schicksal machte uns einen riesigen Strich durch die Rechnung. Vor einem Jahr ist meine Lea gestorben. Zuhause, mit den Kindern um sie herum. Ich habe mich noch nicht damit abgefunden. Ob das möglich ist, wird die Zeit zeigen. Doch finde ich Trost durch meine fabelhafte Familie,  aber auch von den vielen Freunden in Israel und ausserhalb.

Entsetzlich, doch wunderschön! Ein jiddisches Gedicht aus dem Loch unter‘m Kuhstall

Im Dor Tivon leben rund zweihundertfünfzig Pensionäre, davon sind etwa fünfzig Männer. Rund dreissig Prozent der hier lebenden Menschen sind Holocaust-Überlebende. Sie reden darüber, wenigstens die meisten von ihnen. Ich gehe nicht an nationale Feiern, ich mag den nationalistischen Trara nicht, doch am Holocaust-Gedenktag im Dor Tivon nehme ich Teil. Dort haben jedes Jahr einige unserer Pensionäre und Freunde mit Nummern auf dem Arm Gelegenheit ihre Kindheitserlebnisse zu erzählen. Es gibt wenige unter ihnen, die einen verbitterten Eindruck machen, viele von diesen Menschen sind noch oder wieder fröhlich und haben es geschafft, mit ihrer schrecklichen Vergangenheit fertig zu werden. Immer wieder bin ich erstaunt, wie wenig Hass auf ihre damaligen Peiniger zu finden ist. Es sind wenige zu finden, die heute alles Deutsche ablehnen und es nicht aushalten Deutsch sprechende Kollegen wie meinen Freund, dem Stuttgarter Alex Potok (94) oder mich (fast 80) blödeln zu hören. In Schwäbisch und Schweizerdeutsch.
Gelegenheit werde ich unter anderem einige dieser Pensionärskollegen vorstellen. Mit Text und Bild. Hier Schoschana Rothschild's Story: Sie und ihre Familie wurden von einem polnischen Bauern gerettet, der sich entschloss die Familie und besonders die zwei Töchterchen unbedingt retten. Juden wurden durch solche Helden gerettet, von denen viele von der SS und der Wehrmacht erwischt und samt Familie hingerichtet wurden. Da die Nazis alle paar Tage die Bauernhöfe nach Juden durchsuchten, konnte die Familie nicht im Haus des Bauerns versteckt werden. Also grub dieser christliche (christlich im vollsten Sinne des Wortes) Bauer eine tiefe Höhle unter dem Kuhstall, die er so einrichtete, dass die Familie dort einigermassen sicher vor den Nazis überleben konnte. Er versorgte sie mit Nahrung und allem Notwendigen. In diesem Loch überlebte Schoschana’s Familie über zwei Jahre bis die Rote Armee sie erlöste. Solche und ähnliche Geschichten aus den Judenverfolgungen der Nazizeit, in allen von den Nazis besetzten Ländern Europas gibt es viele. Doch das „besondere“ in diesem Fall muss erzählt sein:

Shoshanas Vater hielt in diesem Loch Schule. Shoshana war etwa sechs Jahre alt und sie lernte lesen und schreiben. Der Bauer besorgte Bleistift und Papier und ihr Vater unterrichtete. In polnischer Sprache. Der Vater schrieb seine Gedichte in Jiddisch. Das Papier war knapp, weshalb er sein damals sechsjähriges Töchterchen polnische Texte schreiben liess und später seine eigenen Gedichte in Jiddisch, einer mit hebräischen Buchstaben geschriebenen hochliterarischen Sprache, darüber. Eine Sparmassnahme. Shoshana rettete diese Dokumente. Als Beispiel ein Blatt aus diesen Arbeiten: Schreibübungen in Polnisch und ein Gedicht in Jiddisch:



Ich lernte Schoschana in unserer „English Poetry“ Gruppe kennen. Im Laufe ihres Lebens lernte sie Sprachen, wie Englisch (sie wurde Englischlehrerin in den USA), Polnisch, Yiddisch und Hebräisch. Ihre Gedichte in diesen Sprachen sind wunderschön.

Zum Abschluss das Gedicht von Schoschana’s Vater, Mendel Seifert. Schoschana übersetzte es aus dem Polnischen erst in’s Hebräische und dann in‘s Englische. Ich wage es nicht eine Übersetzung ins Deutsche vorzunehmen. Hier die englische Fassung:

The Dream

Buried beneath the cowshed
Hiding from Hitler's murderers
In the dark, we dream of liberation
Of an end to our hunger and pain

Counting the nights and the days,
The days so long, the nights so cold
A whole years has passed
Hope and despair take turns in our hearts

Outside a storm is raging
The wind is howling and moaning
The dog in the yard is barking
I listen, awake, afraid

Next to my little daughter
is speaking in her dream
I can't see her face, but I hear her clearly
"Daddy, the war is over, Daddy, we're free"

In the morning he tells me her dream
"I dreamt they came to tell us
The war was over and we could come out of hiding
And I thought we could all go to Palestine"

Oh, my child, how I wish your dream would come true
how I long to see peace put an end to this dreadful war
My heart is hopeful but a doubt creeps in
Who knows whether we will live to see that day.

Mendel Seifert (Dezember 1943)

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