Hab ich das nötig?
Viele
Jahre führte ich Uris Tagebuch, erst als E-Mail, später als Blog. Dazu kam meine Mitarbeit beim „Journal21“,
bei dem ich bis heute unzählige Artikel veröffentlicht habe. Ich hatte zu
berichten und zu vielem Stellung zu nehmen. Doch vor einigen Jahren fiel es mir
laufend schwerer, mich mit der Materie zu befassen, der arabisch-islamische
Hass auf Israel und das weltweite Judentum und dem dümmlichen, aber wachsenden
Antiarabismus und Antipalästinismus verschiedener einflussreicher
nationalistischer Kreise Israels verursachten mir Motivationsstörungen und
Bauchschmerzen. Dann kamen die unzähligen Hassbriefe von Schreibern, die
öffensichtlich nichts besseres zu tun haben, als ihren Selbsthass in Hass und
Lügen mir gegenüber zu kanalisieren. Für jedes Medium finden sich
selbsthassende Spezialisten die alles tun ihre Ignoranz und ihren Menschhass
(in diesem Fall ihren Judenhass) am Author herauszulassen. Ich frage mich
heute: „Habe ich das nötig?“. Die Antwort ist nein. Mein Masochismus hält sich
in Grenzen, auch wenn mir klar gemacht wurde, dass Hassreaktionen beweisen,
dass meine Schreiberein tatsächlich gelesen werden. Ich will nun mein Tagebuch
fortführen, doch weniger über Politik, dafür mehr über eigene Erfahrungen im
Lande der Väter und das Leben eines Schweizer Pensionärs in Israel. Seit die
NZZ heute hier in Israel von Ueli Schmid
vertreten ist, kann ich mir meinen Senf grossenteils sparen – er schreibt
unvergleichlich besser, besitzt den gewünschten Durchblick und macht das
übliche Duckmäusertum ausländischer Pressevertreter nicht mit.
Der Neuanfang
Vor
über vier Jahren zogen Lea und ich aus unserer schönen grossen Wohnung in
Zichron Yaakov in eine sogenannte „Alterresidenz“. Das aus gesundheitlichen
Gründen. Diese Alterresidenz heisst „Dor Tivon“ und liegt in Kirat Tivon, am
Rande des biblischen Emek Yesreel. Wir leben in einem grossen Haus, zusammen
mit rund 250 weiteren Pensionären. Wenn ich gefragt werde, wie es denn so sei
in dieser riesigen Institution, wie es denn so sei mit weiteren 250 Pensionären
zu leben, von den fast alle älter sind als ich, erkläre ich, dass wir an einem Ort
leben, der eine Kreuzung zwischen einem Luxushotel und einem Kibbutz sei. Ausnahmslos
alle unserer noch immer zahlreichen Gäste sind überrascht, ja begeistert –
einem ähnlichen Ort in der Schweiz gleiche es nicht. Vor allem im
amerikanischen Florida gibt es solche Institutionen. Weit grösser als unser Dor
Tivon – ich besuchte dort ein „Protected Living“ in Dearfield Beach in dem rund
zwanzigtausend Alte (auf Amerikanisch-Jiddisch AKs – Kurzform für alte Kacker
genannt) leben, weitgehend selbständig, mehrheitlich jüdisch – autofahrend,
selbst einkaufend und kochend, Golf spielend auf einem der drei 18-Loch
Golfplätze und ähnlichem. Ähnlich ist es bei uns – doch alles in weit kleinerem
Masse und ohne Golfplatz. Doch gibt es sehr viele Aktivitäten, von denen ein beträchtlicher
Teil durch die Pensionäre selbst organisiert und ausgeführt wird. Ich schwimme
fast täglich, besuche und gebe Vorträge (über Jazz und Blues) und hatte in
einem der drei grossen Eingangshallen (Lobbies) eine Fotoausstellung hängen – fast drei Jahre lang. Mit
viel Erfolg und (nur guten) Kritiken, sogar in der Lokalpresse.
Mit einem Fuss im Grab
Wenige
Tage nach unserem Einzug lief ich mit meinem Zichron Yaakover Freund Arie der
Nagar (Schreiner) durch den langen Korridor, der die vielen Einrichtungen verbindet
und kamen an der Caferia vorbei. Eine grössere Zahl älterer Damen sassen beim
Kaffee und riefen mir, dem noch unbekannten Neuling, zu: „Bist du allein?“ Uri,
höflich wie immer, antwortete, er sei glücklich verheiratet, nur sei seine Frau
Lea gerade bei ihrer Schwester im Kibbuz. Dann gingen wir weiter und ich sah
wie Freund Arie neben mir grosse Mühe hat, nicht zu lachen. Als wir genügend
Abstand zur Cafeteria erreicht hatten, pustete er los. Er, der rund zwanzig
Jahre Jüngere, erklärte mir, dass hier Männermangel herrsche und meine Person
Interesse bei alleinstehenden Damen geweckt haben müsse. Das sei normal. Ein
Paradies für uns Männer.
Doch
das Schicksal machte uns einen riesigen Strich durch die Rechnung. Vor einem
Jahr ist meine Lea gestorben. Zuhause, mit den Kindern um sie herum. Ich habe
mich noch nicht damit abgefunden. Ob das möglich ist, wird die Zeit zeigen. Doch
finde ich Trost durch meine fabelhafte Familie,
aber auch von den vielen Freunden in Israel und ausserhalb.
Entsetzlich, doch wunderschön! Ein jiddisches Gedicht aus dem Loch
unter‘m Kuhstall
Im
Dor Tivon leben rund zweihundertfünfzig Pensionäre, davon sind etwa fünfzig
Männer. Rund dreissig Prozent der hier lebenden Menschen sind Holocaust-Überlebende.
Sie reden darüber, wenigstens die meisten von ihnen. Ich gehe nicht an
nationale Feiern, ich mag den nationalistischen Trara nicht, doch am
Holocaust-Gedenktag im Dor Tivon nehme ich Teil. Dort haben jedes Jahr einige
unserer Pensionäre und Freunde mit Nummern auf dem Arm Gelegenheit ihre
Kindheitserlebnisse zu erzählen. Es gibt wenige unter ihnen, die einen
verbitterten Eindruck machen, viele von diesen Menschen sind noch oder wieder
fröhlich und haben es geschafft, mit ihrer schrecklichen Vergangenheit fertig
zu werden. Immer wieder bin ich erstaunt, wie wenig Hass auf ihre damaligen Peiniger
zu finden ist. Es sind wenige zu finden, die heute alles Deutsche ablehnen und
es nicht aushalten Deutsch sprechende Kollegen wie meinen Freund, dem Stuttgarter
Alex Potok (94) oder mich (fast 80) blödeln zu hören. In Schwäbisch und
Schweizerdeutsch.
Gelegenheit
werde ich unter anderem einige dieser Pensionärskollegen vorstellen. Mit Text
und Bild. Hier Schoschana Rothschild's Story: Sie und ihre Familie wurden von einem
polnischen Bauern gerettet, der sich entschloss die Familie und besonders die zwei Töchterchen unbedingt
retten. Juden wurden durch
solche Helden gerettet, von denen viele von der SS und der Wehrmacht erwischt
und samt Familie hingerichtet wurden. Da die Nazis alle paar Tage die
Bauernhöfe nach Juden durchsuchten, konnte die Familie nicht im Haus des
Bauerns versteckt werden. Also grub dieser christliche (christlich im vollsten
Sinne des Wortes) Bauer eine tiefe Höhle unter dem Kuhstall, die er so einrichtete,
dass die Familie dort einigermassen sicher vor den Nazis überleben konnte. Er
versorgte sie mit Nahrung und allem Notwendigen. In diesem Loch überlebte
Schoschana’s Familie über zwei Jahre bis die Rote Armee sie erlöste. Solche und
ähnliche Geschichten aus den Judenverfolgungen der Nazizeit, in allen von den
Nazis besetzten Ländern Europas gibt es viele. Doch das „besondere“ in diesem
Fall muss erzählt sein:
Shoshanas
Vater hielt in diesem Loch Schule. Shoshana war etwa sechs Jahre alt und sie
lernte lesen und schreiben. Der Bauer besorgte Bleistift und Papier und ihr
Vater unterrichtete. In polnischer Sprache. Der Vater schrieb seine Gedichte in
Jiddisch. Das Papier war knapp, weshalb er sein damals sechsjähriges
Töchterchen polnische Texte schreiben liess und später seine eigenen Gedichte
in Jiddisch, einer mit hebräischen Buchstaben geschriebenen hochliterarischen
Sprache, darüber. Eine Sparmassnahme. Shoshana rettete diese Dokumente. Als
Beispiel ein Blatt aus diesen Arbeiten: Schreibübungen in Polnisch und ein
Gedicht in Jiddisch:
Ich
lernte Schoschana in unserer „English Poetry“ Gruppe kennen. Im Laufe ihres
Lebens lernte sie Sprachen, wie Englisch (sie wurde Englischlehrerin in den USA),
Polnisch, Yiddisch und Hebräisch. Ihre Gedichte in diesen Sprachen sind
wunderschön.
Zum
Abschluss das Gedicht von Schoschana’s Vater, Mendel Seifert. Schoschana
übersetzte es aus dem Polnischen erst in’s Hebräische und dann in‘s Englische.
Ich wage es nicht eine Übersetzung ins Deutsche vorzunehmen. Hier die englische
Fassung:
The Dream
Buried beneath the cowshed
Hiding from Hitler's murderers
In the dark, we dream of liberation
Of an end to our hunger and pain
Counting the nights and the days,
The days so long, the nights so cold
A whole years has passed
Hope and despair take turns in our hearts
Outside a storm is raging
The wind is howling and moaning
The dog in the yard is barking
I listen, awake, afraid
Next to my little daughter
is speaking in her dream
I can't see her face, but I hear her clearly
"Daddy, the war is over, Daddy, we're free"
In the morning he tells me her dream
"I dreamt they came to tell us
The war was over and we could come out of hiding
And I thought we could all go to Palestine"
Oh, my child, how I wish your dream would come true
how I long to see peace put an end to this dreadful war
My heart is hopeful but a doubt creeps in
Who knows whether we will live to see that day.
Mendel Seifert (Dezember 1943)
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