Dienstag, 2. August 2011

Wieder zwei Kommentare



Tarek Fatah


Ich möchte euch eine Rede nicht vorenthalten, die von Tarek Fatah, einem kanadischen Muslim mit Mut, einem Muslim, wie er tatsächlich nur ausserhalb der muslimischen Welt zu finden ist, gehalten wird.


Tahrirplatz v. Rothschild Boulevard


Es wird in den Medien wiederholt der Vergleich zwischen den ägyptischen Demonstrationen am Tahrirplatz in Kairo und der Zeltstadt am Tel Aviver Rothschild Boulevard und den Demonstrationen in Tel Aviv und dann auch in anderen Städten Israels gezogen. Der Vergleich hinkt ganz gewaltig. In Kairo gab es Hunderte von Toten, die Polizei griff mit enormer Brutalität ein. In Tel Aviv and in den anderen israelischen Städten findet eine Art Blumenrevolution statt, die Polizei greift nur dann ein, wenn der Verkehr blockiert wird. Das ist das eine. Das andere und wichtigere ist die Tatsache, dass auf dem Tahrirplatz über eine Million Menschen demonstrierten und ausser dem Ruf nach „Freiheit“, „Arbeitsplätzen“ „weg mit Mubarak“, nicht in der Lage waren und sind, Ziele zu definieren. Von demokratischen Grundsätzen war nie die Rede, den Aegyptern sind diese nicht sehr bekannt. Den Mubarak wurden sie los, jedoch abgelöst durch eine Militärjunta, die voraussichtlich den Islamisten der Muslimbrüder Platz machen wird. Dann wird es den christlichen Kopten wohl noch aggressiver an den Kragen gehen.


Anders in Israel. Die Proteste wurden durch den Mangel an preiswerten Wohnungen für junge Familien ausgelöst, weitete sich aber schnell auf weitere Themen aus. Inzwischen wurde durch die Demonstranten, mit Hilfe hinzugezogener Oekonomen und anderer Fachleuten eine beeindruckende Liste politisch-wirtschaftlicher Prioritäten erstellt, die in Israel eine politische Revolution auslösen kann und hoffentlich auch wird. Im heutigen Haaretz werden folgende vier Themen vorgestellt:
  • Wohnraum: mehr öffentlicher Wohnraum, Mietkostenkontrolle, mehr kostengünstige Wohnungen.
  • Soziales: Anheben des gesetzlichen Minimallohnes, Lohnerhöhung für die Polizei (schon geschehen – 2000 NS kriegt jeder Polizist mehr), Feuerwehrleute und Sozialarbeiter. (Wo sind die Volksschullehrer, Krankenschwestern etc.?)
  • Erziehung: freie Schulen ab dem Alter von drei Monaten (damit auch Mütter ausser Haus arbeiten können), Anpassung der Klassengrösse an OECD Normen. Es gibt auch schon den Ruf, die schleichende Privatisierung des Schulsystems zu beenden, um soziale Ungleichheiten abzuschaffen. (Private Schulen sind das Resultat des kollabierenden Schulsystems, einst eines der besten der der Welt).
  • Gesundheit: mehr Personal, mehr Betten und Ausrüstung gemäss OECD Normen.
Ich nehme an, dass diese Liste nicht endgültig ist, denn sie enthält unter anderem (noch) nicht die Themen Steuersenkung für den Mittelstand, Einsparungen der Schekelmilliarden an parasitäre Parallelgesellschaften und die Siedler der besetzten Gebiete. Auch vermisse ich den Ruf zum Verbot der Wirtschaftskartelle, die eine der Hauptgründe für die unglaubliche Teuerung der letzten Jahre ist. Es ist, als sei wirtschaftliche Konkurrenz in Israel verboten. Diese revolutionären Themen erklären denn auch den Widerstand, wenn bisher noch zögerlich, ultraorthodoxer Kreise und rechtsextremistischer Siedler gegen diese neue soziale Bewegung des israelischen Mittelstandes.


Wie ich hatten viele Israelis am Einsatzwillen der israelischen Mittelklasse, die eigentlich den irre gelaufenen Staat nicht nur finanziell tragen, aber bisher ihren Mund kaum in eigener Sache aufgemacht und protestiert haben, gezweifelt. Es geht hier nicht allein um Wohnkosten, sondern um Werte und Prioritäten israelischer Politik, die in den letzten dreissig Jahren ins Irre gelaufen sind. Jetzt werden sie, so ist zu hoffen, neu geordnet, sodass sie der Priorität der Werte eines demokratischen Staatswesens wieder entsprechen. Prioritäten, wie die Eindämmung des auf wenige Familien bezogenen „schweinischen“ Kapitalismus, der vielleicht zum israelischen Wirtschaftswunder beitrug, von dem jedoch der durchschnittliche Arbeitsnehmer wenig profitiert. Die Teuerungsrate und Preispolitik ist den Durchschnittseinkommen schon lange davon gezogen. Rund fünfzig Prozent israelischer Lohnempfänger erhalten gerade noch den gesetzlichen Minimallohn, einige nicht einmal den.


Auf jeden Fall bin ich stolz, dass das anständige Israel aus seinem Tiefschlaf erwacht ist und beginnt sich dem Charakter seines Landes zu widmen, einem Charakter, der sich in den letzten dreissig Jahren verschlechtert hat. Grund dazu ist bestimmt die übertriebene Privatisierung der Wirtschaft, mit der gemeinschaftlich erarbeitete Teile der Wirtschaft an Tycoone verscherbelt wurde, ähnlich dem Aufstieg der russischen Oligarchen zur Zeit Jelzins. Ich finde noch immer, dass europäische soziale Marktwirtschaft auch für Israel die geeignete Wirtschaftsform ist, doch wenn sie nach Schweinestall zu stinken beginnt, ist die Grenze zu oben erwähntem schweinischen Kapitalismus, in dem nur ganz wenige die Fäden in den Händen halten, überschritten. Die gegenwärtige Regierung, die all das nicht interessiert, doch jetzt aus Gründen ihrer eigenen Besitzstandwahrung (die Regierungsstühle), sich damit befassen muss, gehört eigentlich gestürzt. Doch das ist inzwischen noch ein Tagtraum. Man muss Nethanyahu zugute halten als Finanzminister viel für die israelische Wirtschaft getan zu haben. Aber heute ist diese zu einem Monster in den Händen weniger geworden, ein Monster, das gezähmt werden muss, sonst werden wir wirklich ein Israel haben, für das einzusetzen sich nicht mehr lohnt.

1 Kommentar:

esther hat gesagt…

Lieber Uri
angesichts der Proteste, die sich meiner Ansicht nach gerade erst in der Anfangsphase befinden, muss ich mir die Frage stellen, warum unsere Regierung heute den Beschluss gefasst hat, die illegal gebaute Siedlung "Migron" erst bis Ende März räumen zu lasssen. Warum nicht sofort? Die Gelder, die in die Sicherheit der Siedler gesteckt werden müssen, könnten besser genutzt werden.
Aber ja,für unsere Politiker ist es schon schwer, den Daumen rauszuziehen, wenn der toches mit Klebstoff am Knessetstuhl klebt....