Heute habe ich, 76 Jahre
alt und, wie ich meinte, abgeklärt und zynisch geworden, geweint. Ein wenig
nur, doch es geschah. Marcel Reich-Ranicki ist tot, einer der grossen Literaten
der deutschen Sprache, geboren in Polen, doch als Jude verfolgt von Nazis. Deutschen
und SS aus den baltischen Staaten. Er überlebte die Nazis und verlor, wie fast
alle Juden Europas, den gesamten Rest der Familie. Und er machte Karriere–
ausgerechnet bei dem Nachkommen jener, die ihn in den Tod schicken wollten.
Ich habe seinerzeit, gleich
nach deren Erscheinen, seine Memoiren „Mein Leben“ gelesen. Gleich dreimal
hintereinander. Selbst an deutscher Literatur interessiert und teilweise in
dieser Sparte arbeitend, wurde er mir zu einem Vorbild – weniger als Kritiker,
sondern mehr als Jude. Er hatte den Mut Querschläger zu sein, es war ihm „wurscht“,
was das Publikum über ihn dachte und sagte. Und hatte deshalb oder trotzdem
Erfolg. Manchmal hatte er auch unrecht, doch nur Nichtstuer machen keine Fehler.
Er imponierte mir auch mit
seiner Weigerung Vorzeigejude der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu sein. Er
wird einen deutschen Pass gehabt haben, doch immer wieder stellte er fest, er
sei kein deutscher Patriot und fühle sich nicht als Deutscher. Seine Heimat sei
die deutsche Literatur. In der, das weiss auch ich, Juden eine Schlüsselrolle
spielten. Man denke an die Brüder Zweig, an Kafka, an Heine, um nur wenige zu
nennen.
Deutschland hat sich als
einziges europäisches Land öffentlich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt
und als Staat die Verbrechen der Nazis und grossen Teilen der damaligen
Bevölkerung eingestanden. Der deutsche Staat hat die Welt, die Juden und anderen Opfer um
Vergebung gebeten und auch versucht materiell Abbitte zu leisten. Noch heute
leisten junge Deutsche freiwillig in Israel ein volles Jahr (manchmal auch
mehr) soziale Dienste für Holocaustüberlebende, um für die Taten ihrer Väter
und Grossväter zu sühnen (Aktion Sühnezeichen). Das ist mehr als andere
europäische Nationen, wie die Schweiz, Frankreich, Österreich, Holland,
Norwegen, Polen, Ungarn, die baltischen Staaten auch nur im Ansatz versuchten. Auch
wenn, auf die Schweiz bezogen, der damalige Bundespräsident Delamuraz 1996 korrekt feststellte Auschwitz liege nicht in der Schweiz – die
Schweiz der Kriegszeit war indirekter Zulieferer menschlichen Vernichtungsmaterials für Auschwitz und andere
Vernichtungslagern. Oder die Tatsache, dass die Schweizer Helden jener Jahre
wie Hauptmann Grüninger und Konsul Lutz, die hunderte und tausende Juden
retteten, für diese zutiefst menschliche und heldenhafte Tat bestraft statt gelobt worden sind.
Natürlich gibt es
Ausnahmen: in Deutschland und in obgenannten Ländern gibt es auch heute noch
und auch wieder „Neonazis“ genannte Nazis jeden Alters. Es gibt Fremden-, Juden-,
und Selbsthasser (ich mag das Wort Antisemit nicht so sehr). Es gibt sie ebenso in der mir trotzdem nahestehenden Schweiz, ob grün, rot oder braun, äussern sie sich gerne als politisch
korrekte „Israelkritiker“, denn dann sind sie fein raus, ohne merken zu wollen,
dass sie traditionellen Judenhass
weiterführen. Denn man darf doch noch Israel kritisieren – oder? Pardon, das
war, andeutungsweise, eine meiner üblichen Abschweifungen.
Nachfolgend habe ich Marcel
Reich-Ranizkis Rede vor dem deutschen Bundestag abgedruckt (Quelle: Welt-online). Beim Lesen
dieser Erinnerungsansprache ist mir einmal wieder eingefallen, ja hochgekommen,
wie sehr es trotz allen Fakten noch immer Holocaust-Leugner gibt, dass die
Schweizer Kooperation mit der deutschen Armee und vor allem mit der SS durch Schweizer
Aerztekommissionen unter dem Kommando des Nazisympathisanten Oberstdivisionär Eugen Bircher
noch immer kein richtiges Thema ist und es kaum je sein wird.
Das sind Themen, die mir Reich-Ranickis
Tod wieder in Erinnerung gerufen haben.
Wie Marcel Reich-Ranicki an
den Holocaust erinnert
Zum
Holocaust-Gedenktag dokumentiert "Welt Online" die bewegende Rede des
Literaturkritikers und Zeitzeugen Marcel Reich-Ranicki vom 27.1.20.12 im
deutschen Bundestag:
Sehr
geehrter Herr Bundestagspräsident,
Sehr
geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sehr
geehrter Herr Bundesratspräsident,
Sehr
geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
Sehr
geehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Gäste!
Ich soll
heute hier die Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des
Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein
Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer Ghettos. 1938 war ich aus
Berlin nach Polen deportiert worden. Bis 1940 machten die Nationalsozialisten
aus einem Warschauer Stadtteil den von ihnen später sogenannten "jüdischen
Wohnbezirk". Dort lebten meine Eltern, mein Bruder und schließlich ich
selber. Dort habe ich meine Frau kennengelernt.
Seit dem
Frühjahr 1942 hatten sich Vorfälle, Maßnahmen und Gerüchte gehäuft, die von
einer geplanten generellen Veränderung der Verhältnisse im Ghetto zeugten. Am
20. und 21. Juli war dann für jedermann klar, dass dem Ghetto Schlimmstes bevorstand:
Zahlreiche Menschen wurden auf der Straße erschossen, viele als Geiseln
verhaftet, darunter mehrere Mitglieder und Abteilungsleiter des
"Judenrates". Beliebt waren die Mitglieder des
"Judenrates", also die höchsten Amtspersonen im Ghetto, keineswegs.
Gleichwohl war die Bevölkerung erschüttert: Die brutale Verhaftung hat man als
ein düsteres Zeichen verstanden, das für alle galt, die hinter den Mauern
lebten.
Am 22.
Juli fuhren vor das Hauptgebäude des "Judenrates" einige
Personenautos vor und zwei Lastwagen mit Soldaten. Das Haus wurde umstellt. Den
Personenwagen entstiegen etwa fünfzehn SS-Männer, darunter einige höhere
Offiziere. Einige blieben unten, die anderen begaben sich forsch und zügig ins
erste Stockwerk zum Amtszimmer des Obmanns, Adam Czerniaków.
Im ganzen
Gebäude wurde es schlagartig still, beklemmend still. Es sollten wohl,
vermuteten wir, weitere Geiseln verhaftet werden. In der Tat erschien auch
gleich Czerniakóws Adjutant, der von Zimmer zu Zimmer lief und dessen Anordnung
mitteilte: Alle anwesenden Mitglieder des "Judenrates" hätten sofort
zum Obmann zu kommen. Wenig später kehrte der Adjutant wieder: Auch alle
Abteilungsleiter sollten sich im Amtszimmer des Obmanns melden. Wir nahmen an,
daß für die offenbar geforderte Zahl von Geiseln nicht mehr genug Mitglieder
des "Judenrates" (die meisten waren ja schon am Vortag verhaftet
worden) im Haus waren.
Kurz
darauf kam der Adjutant zum dritten Mal: Jetzt wurde ich zum Obmann gerufen,
jetzt bin wohl ich an der Reihe, dachte ich mir, die Zahl der Geiseln zu
vervollständigen. Aber ich hatte mich geirrt. Auf jeden Fall nahm ich, wie
üblich, wenn ich zu Czerniaków ging, einen Schreibblock mit und zwei
Bleistifte. In den Korridoren sah ich stark bewaffnete Posten. Die Tür zum
Amtszimmer Czerniakóws war, anders als sonst, offen.
Er stand,
umgeben von einigen höheren SS-Offizieren, hinter seinem Schreibtisch. War er
etwa verhaftet? Als er mich sah, wandte er sich an einen der SS-Offiziere,
einen wohlbeleibten, glatzköpfigen Mann – es war der Leiter der allgemein
"Ausrottungskommando" genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und
Polizeiführer, der SS-Sturmbannführer Höfle. Ihm wurde ich von Czerniaków
vorgestellt, und zwar mit den Worten: "Das ist mein bester Korrespondent,
mein bester Übersetzer." Also war ich nicht als Geisel gerufen.
Höfle
wollte wissen, ob ich stenographieren könne. Da ich verneinte, fragte er mich,
ob ich imstande sei, schnell genug zu schreiben, um die Sitzung, die gleich
stattfinden werde, zu protokollieren. Ich bejahte knapp. Daraufhin befahl er,
das benachbarte Konferenzzimmer vorzubereiten. Auf der einen Seite des langen,
rechteckigen Tisches nahmen acht SS-Offiziere Platz, unter ihnen Höfle, der den
Vorsitz hatte. Auf der anderen saßen die Juden: neben Czerniaków die noch nicht
verhafteten fünf oder sechs Mitglieder des "Judenrates", ferner der
Kommandant des Jüdischen Ordnungsdienstes, der Generalsekretär des
"Judenrates" und ich als Protokollant.
An den
beiden zum Konferenzraum führenden Türen waren Wachtposten aufgestellt. Sie
hatten, glaube ich, nur eine einzige Aufgabe: Furcht und Schrecken zu
verbreiten. Die auf die Straße hinausgehenden Fenster standen an diesem warmen
und besonders schönen Tag weit offen.
So konnte
ich genau hören, womit sich die vor dem Haus in ihren Autos wartenden SS-Männer
die Zeit vertrieben: Sie hatten wohl ein Grammophon im Wagen, einen
Kofferapparat wahrscheinlich, und hörten Musik und nicht einmal schlechte. Es
waren Walzer von Johann Strauß, der freilich auch kein richtiger Arier war. Das
konnten die SS-Leute nicht wissen, weil Goebbels die nicht ganz rassereine
Herkunft des von ihm geschätzten Komponisten verheimlichen ließ.
Höfle
eröffnete die Sitzung mit den Worten: "Am heutigen Tag beginnt die
Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, dass es hier zuviel
Juden gibt. Euch, den ›Judenrat‹, beauftrage ich mit dieser Aktion. Wird sie
genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder freigelassen,
an-dernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben." Er zeigte mit der
Hand auf den Kinderspielplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Es
war eine für die Verhältnisse im Getto recht hübsche Anlage, die erst vor
wenigen Wochen feierlich eingeweiht worden war: Eine Kapelle hatte aufgespielt,
Kin-der hatten getanzt und geturnt, es waren, wie üblich, Reden gehalten
worden.
Jetzt
also drohte Höfle den ganzen "Judenrat" und die im Konferenzraum
anwesenden Juden auf diesem Kinderspielplatz aufzuhängen. Wir spürten, dass der
vierschrötige Mann, dessen Alter ich auf mindestens vierzig schätzte – in
Wirklichkeit war er erst 31 Jahre alt –, nicht die geringsten Bedenken hätte,
uns sofort erschießen oder eben "aufknüpfen" zu lassen.
Schon das
(übrigens unverkennbar österreichisch gefärbte) Deutsch zeugte von der
Primitivität und Vulgarität dieses SS-Offiziers.
So
schnoddrig und sadistisch Höfle die Sitzung eingeleitet hatte, so sachlich
diktierte er einen mitgebrachten Text, betitelt "Eröffnungen und Auflagen
für den ›Judenrat‹". Freilich verlas er ihn etwas mühselig und schwerfällig,
mitunter stockend: Er hatte dieses Dokument weder geschrieben noch redigiert,
er kannte es nur flüchtig. Die Stille im Raum war unheimlich, und sie wurde
noch intensiver durch die fortwährenden Geräusche: das Klappern meiner alten
Schreibmaschine, das Klicken der Kameras einiger SS-Führer, die immer wieder
fotografierten, und die aus der Ferne kommende, die leise und sanfte Weise von
der schönen, blauen Donau. Haben diese eifrig fotografierenden SS-Führer
gewußt, dass sie an einem historischen Vorgang teilnahmen?
Von Zeit
zu Zeit warf mir Höfle einen Blick zu, um sich zu vergewissern, daß ich auch
mitkäme. Ja, ich kam schon mit, ich schrieb, daß "alle jüdischen
Personen", die in Warschau wohnten, "gleichgültig welchen Alters und
Geschlechts", nach Osten umgesiedelt würden. Was bedeutete hier das Wort
"Umsiedlung"? Was war mit dem Wort "Osten" gemeint, zu
welchem Zweck sollten die Warschauer Juden dorthin gebracht werden? Darüber war
in Höfles "Eröffnungen und Auflagen für den ›Judenrat‹" nichts gesagt.
Wohl aber
wurden sechs Personenkreise aufgezählt, die von der Umsiedlung ausgenommen
seien – darunter alle arbeitsfähigen Juden, die kaserniert werden sollten, alle
Personen, die bei deutschen Behörden oder Betriebsstellen beschäftigt waren
oder die zum Personal des "Judenrats" und der jüdischen Krankenhäuser
gehörten. Ein Satz ließ mich plötzlich aufhorchen: Die Ehefrauen und Kinder
dieser Personen würden ebenfalls nicht "umgesiedelt ".
Unten
hatte man inzwischen eine andere Platte aufgelegt: Nicht laut zwar, doch ganz
deutlich konnte man den frohen Walzer hören, der von "Wein, Weib und
Gesang" erzählte. Ich dachte mir: Das Leben geht weiter, das Leben der
Nichtjuden. Und ich dachte an sie, die jetzt in der kleinen Wohnung mit einer
graphischen Arbeit beschäftigt war, ich dachte an Tosia, die nirgends
angestellt und also von der "Umsiedlung" nicht ausgenommen war.
Höfle
diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, daß die "Umsiedler"
fünfzehn Kilogramm als Reisegepäck mitnehmen dürften sowie "sämtliche Wertsachen,
Geld, Schmuck, Gold usw.". Mitnehmen durften oder mitnehmen sollten? –
fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942, sollte der Jüdische
Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter Aufsicht des
"Judenrates" durchführen mußte, 6000 Juden zu einem an einer
Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem Umschlagplatz. Von dort fuhren die Züge
in Richtung Osten ab. Aber noch wußte niemand, wohin die Transporte gingen, was
den "Umsiedlern" bevorstand.
Im
letzten Abschnitt der "Eröffnungen und Auflagen" wurde mitgeteilt,
was jenen drohte, die etwa versuchen sollten, "die Umsiedlungsmaßnahmen zu
umgehen oder zu stören". Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am Ende
eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: "… wird erschossen."
Wenige
Augenblicke später verließen die SS-Führer mit ihren Begleitern das Haus. Kaum
waren sie verschwunden, da verwandelte sich die tödliche Stille nahezu
blitzartig in Lärm und Tumult: Noch kannten die vielen Angestellten des
"Judenrates" und die zahlreichen wartenden Bittsteller die neuen
Anordnungen nicht. Doch schien es, als wüßten oder spürten sie schon, was sich
eben ereignet hatte – daß über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil
gefällt worden war, das Todesurteil.
Ich begab
mich schleunigst in mein Büro, denn ein Teil der von Höfle diktierten
"Eröffnungen und Auflagen" sollte innerhalb von wenigen Stunden im
ganzen Ghetto plakatiert werden. Ich mußte mich sofort um die polnische
Übersetzung kümmern. Langsam diktierte ich den deutschen Text, den meine
Mitarbeiterin Gustawa Jarecka sofort polnisch in die Maschine schrieb.
Ihr also,
Gustawa Jarecka, diktierte ich am 22. Juli 1942 das Todesurteil, das die SS
über die Juden von Warschau gefällt hatte.
Als ich
bei der Aufzählung der Personengruppen angelangt war, die von der
"Umsiedlung" ausgenommen sein sollten, und dann der Satz folgte, dass
sich diese Regelung auch auf die Ehefrauen beziehe, unterbrach Gustawa das
Tippen des polnischen Textes und sagte, ohne von der Maschine aufzusehen,
schnell und leise: "Du solltest Tosia noch heute heiraten."
Sofort
nach diesem Diktat schickte ich einen Boten zu Tosia: Ich bat sie, gleich zu
mir zu kommen und ihr Geburtszeugnis mitzubringen. Sie kam auch sofort und war
ziemlich aufgeregt, denn die Panik in den Straßen wirkte ansteckend. Ich ging
mit ihr schnell ins Erdgeschoß, wo in der Historischen Abteilung des
"Judenrates" ein Theologe arbeitete, mit dem ich die Sache schon
besprochen hatte. Als ich Tosia sagte, wir würden jetzt heiraten, war sie nur
mäßig überrascht und nickte zustimmend.
Der
Theologe, der berechtigt war, die Pflichten eines Rabbiners auszuüben, machte
keine Schwierigkeiten, zwei Beamte, die im benachbarten Zimmer tätig waren,
fungierten als Zeugen, die Zeremonie dauerte nur kurz, und bald hatten wir eine
Bescheinigung in Händen, derzufolge wir bereits am 7. März getraut worden
waren. Ob ich in der Eile und Aufregung Tosia geküsst habe, ich weiß es nicht
mehr. Aber ich weiß sehr wohl, welches Gefühl uns überkam: Angst – Angst vor
dem, was sich in den nächsten Tagen ereignen werde. Und ich kann mich noch an
das Shakespeare-Wort erinnern, das mir damals einfiel: "Ward je in dieser
Laun' ein Weib gefreit?"
Am
gleichen Tag, am 22. Juli, habe ich Adam Czerniaków zum letzten Mal gesehen:
Ich war in sein Arbeitszimmer gekommen, um ihm den polnischen Text der
Bekanntmachung vorzulegen, die im Sinne der deutschen Anordnung die Bevölkerung
des Gettos über die vor wenigen Stunden begonnene "Umsiedlung "
informieren sollte. Auch jetzt war er ernst und beherrscht wie immer.
Nachdem
er den Text überflogen hatte, tat er etwas ganz Ungewöhnliches: Er korrigierte
die Unterschrift. Wie üblich hatte sie gelautet: "Der Obmann des
Judenrates in Warschau – Dipl.Ing. A. Czerniaków". Er strich sie durch und
schrieb statt dessen: "Der Judenrat in Warschau". Er wollte nicht
allein die Verantwortung für das auf dem Plakat übermittelte Todesurteil
tragen.
Schon am
ersten Tag der "Umsiedlung" war es für Czerniaków klar, daß er
buchstäblich nichts mehr zu sagen hatte. In den frühen Nachmittagsstunden sah
man, daß die Miliz, so eifrig sie sich darum bemühte, nicht imstande war, die
von der SS für diesen Tag geforderte Zahl von Juden zum
"Umschlagplatz" zu bringen. Daher drangen ins Ghetto schwerbewaffnete
Kampfgruppen in SS-Uniformen – keine Deutschen, vielmehr Letten, Litauer und
Ukrainer. Sie eröffneten sogleich das Feuer aus Maschinengewehren und trieben
ausnahmslos alle Bewohner der in der Nähe des "Umschlagplatzes"
gelegenen Mietskasernen zusammen.
In den
späteren Nachmittagsstunden des 23. Juli war die Zahl der für diesen Tag vom
Stab "Einsatz Reinhard" für den "Umschlagplatz"
angeforderten 6000 Juden erreicht. Gleichwohl erschienen kurz nach achtzehn Uhr
im Haus des "Judenrates" zwei Offiziere von diesem "Einsatz
Reinhard". Sie wollten Czerniaków sprechen. Er war nicht anwesend, er war
schon in seiner Wohnung. Enttäuscht schlugen sie den diensttuenden Angestellten
des "Judenrates" mit einer Reitpeitsche, die sie stets zur Hand hatten.
Sie brüllten, der Obmann habe sofort zu kommen. Czerniaków war bald zur Stelle.
Das
Gespräch mit den beiden SS-Offizieren war kurz, es dauerte nur einige Minuten.
Sein Inhalt ist einer Notiz zu entnehmen, die auf Czerniakóws Schreibtisch
gefunden wurde: Die SS verlangte von ihm, daß die Zahl der zum
"Umschlagplatz" zu bringenden Juden für den nächsten Tag auf 10.000
erhöht werde – und dann auf 7.000 täglich. Es handelte sich hierbei keineswegs
um willkürlich genannte Ziffern. Vielmehr hingen sie allem Anschein nach von der
Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons ab; sie sollten
unbedingt ganz gefüllt werden.
Kurz
nachdem die beiden SS-Offiziere sein Zimmer verlassen hatten, rief Czerniaków
eine Bürodienerin: Er bat sie, ihm ein Glas Wasser zu bringen.
Wenig
später hörte der Kassierer des "Judenrates", der sich zufällig in der
Nähe von Czerniakóws Amtszimmer aufhielt, dass dort wiederholt das Telefon
läutete und niemand den Hörer abnahm. Er öffnete die Tür und sah die Leiche des
Obmanns des "Judenrates" in Warschau. Auf seinem Schreibtisch
standen: ein leeres Zyankali-Fläschchen und ein halbvolles Glas Wasser.
Auf dem
Tisch fanden sich auch zwei kurze Briefe. Der eine, für Czerniakóws Frau
bestimmt, lautet: "Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder
meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu
sterben." Der andere Brief ist an den Judenrat in Warschau gerichtet. In
ihm heißt es: "Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als
einen Akt der Feigheit oder eine Flucht. Ich bin machtlos, mir bricht das Herz
vor Trauer und Mitleid, länger kann ich das nicht ertragen. Meine Tat wird alle
die Wahrheit erkennen lassen und vielleicht auf den rechten Weg des Handelns
bringen …"
Von
Czerniakóws Selbstmord erfuhr das Ghetto am nächsten Tag – schon am frühen
Morgen. Alle waren erschüttert, auch seine Kritiker, seine Gegner und Feinde.
Man verstand seine Tat, wie sie von ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal,
dass die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei.
Still und
schlicht war er abgetreten. Nicht imstande, gegen die Deutschen zu kämpfen,
weigerte er sich, ihr Werkzeug zu sein. Er war ein Mann mit Grundsätzen, ein
Intellektueller, der an hohe Ideale glaubte. Diesen Grundsätzen und Idealen
wollte er auch noch in unmenschlicher Zeit und unter kaum vorstellbaren
Umständen treu bleiben.
Die in
den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 begonnene Deportation der Juden aus
Warschau nach Treblinka dauerte bis Mitte September. Was die
"Umsiedlung" der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die
Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck:
den Tod.
WON
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