Vor wenigen Tagen führte ich bei unserer wöchentlichen Kaffeestunde im Café Mocha eine lebhafte Diskussion mit einem Freund, der aus Los Angeles stammt jedoch schon vor zehn Jahren in Israel lebt. Er ist einer jener Israelis, die sich weigern mit mir nach Umm El-Fahm zu kommen – ich fühle aber, dass er von mir schon recht weichgeklopft ist und bald kommt. Er fragte mich: „Willst du wirklich einen jüdischen Staat?“. Diese Frage stellte er, nachdem ich über die vorgesehene skandalöse Ausweisung von etwa 1200 in Israel geborener Kinder ausländischer Arbeitskräfte geschimpft hatte. Sogar wenn es 12000 solche Fälle gäbe, wäre meine Antwort dieselbe. Diese Kinder sind in Israel geboren, gehen hier in die öffentlichen Schulen, sprechen Ivrith wie Sabras (die sie ja sind) und gehen auch ins israelische Militär, das sie gerne aufnimmt. Sie sind eine Bereicherung für unseren Staat. Das ganze erinnert an die Schweiz, die sich seit Jahrzehnten mit dieser Situation herumschlägt. In Israel handelt es sich um Kinder, deren Eltern aus den Philippinen und anderen fernöstlichen Ländern kommen, um in Israel zu arbeiten und denen heute der Hinauswurf aus dem Heiligen Land droht, in ein Drittweltland, die sie nicht kennen, deren Sprache sie kaum sprechen und wo es meist keine Schulpflicht gibt. Politiker, die Presse, Schulen und Lehrkräfte und viele jüdische Eltern agieren gegen die drohende Ausweisung, die wegen diesem Druck schon mehrere Male verschoben worden ist – immerhin ein Zeichen, dass die Volksmeinung gehört wird. Nicht anders als vor Jahren in der Schweiz, empören Lea und ich uns über den Zynismus des Innenministers der charedischen Schasspartei, der sich für die Verjagung dieser Kinder aus Schule und Land stark macht. Sehr viele israelische Bürger verstehen das nicht und fühlen, dass ein solch unmenschliches Verhalten sich nicht mit den Lehren aus der Geschichte des jüdischen Volkes vereinbaren lässt. Nachdem ich mir darüber Luft verschafft hatte, fragte mein Freund, ob ich denn überhaupt einen jüdischen Staat wolle. „Ja, aber nicht um jeden Preis“, war meine Antwort.
Es geht nicht darum, dass solche Kinder den Staat bedrohen, ja überschwemmen würden, denn zahlreich sind sie nicht. Es geht den Verantwortlichen des Innenministeriums, so scheint mir, darum, „gottlose Mischehen“ und damit verwandtes zu vermeiden. Besonders in den letzten paar Jahren ist mir aufgefallen, dass viele der Neueinwanderer in Israel, besonders jene aus Amerika und aus Russland, sich auf einmal in einem Land sehen, in dem sie, die Juden, die Mehrheit bilden – das genaue Gegenteil ihrer früheren Situation in der Diaspora. Nicht immer, aber immer wieder wurden Juden gemieden, gehasst, verjagt und ermordet – obwohl gerade sie, die Juden, enormes für ihr jeweiliges Heimatland leisteten und sich mit ihm identifizierten. Es scheint, dass viele dieser Olim (Neueinwanderer) mit dieser neuen Situation nicht umgehen können, mit dem ungewohnten „Vorteil“ der Mehrheit anzugehören und ihrerseits beginnen auf andere herabzusehen. Ich gebe gerne zu, dass unsere arabischen Nachbarn und ihre Sympathisanten in Israel dies mit ihren antisemitischen und antiisraelischen Lügenkampagnen und Gewalt gegen uns und sich selbst, dies jedem Möchtegernhasser leicht machen. Das ist aber nicht der Punkt. Ist die Tatsache zu akzeptieren, dass Juden in Israel die Mehrheit der Bevölkerung stellen und sich selbst regieren – was ja das zentrale Prinzip der zionistischen Idee ist – diese nach zweitausend Jahren Unterbruch heute neuartige Situation dazu zu benutzen, einen jüdischen Rassismus gegen andere auszuüben? Sicherlich nicht! Immerhin können wir in Israel stolz darauf sein, viele Bürger zu haben, die anders denken, für Frieden und Menschlichkeit arbeiten und sich dafür aufopfern – auch wenn ihnen aus extremistischen jüdischen Kreisen von Links und Rechts Hohn entgegen schallt und sie aus der arabischen Ecke für deren eigene Propaganda missbraucht werden. Ich meine damit absolut nicht die Gutmenschen der extremen jüdischen Linken, sondern jene Juden und Israelis, die ihre Bürgerpflichten erfüllen, sich gegen palästinensische Gewalt wehren und Israel nicht als Watschenmann der UNO sehen wollen – und trotzdem aktiv die Hand der Versöhnung unseren Feinden entgegenstrecken, auch wenn diese Versöhnungsversuche wieder und wieder ausgeschlagen werden. Damit behalten sie ihre Humanität, die beispielsweise in extremen Siedlerkreisen verloren gegangen ist.
Die Regierung von Bibi Nethanyahu, heute in Israel am Ruder, will von den Palästinensern, den Arabern und dem Rest der Welt, dass Israel als jüdischen Staat anerkannt wird. Die Mehrheit unserer jüdischen und zahlreiche Bürger unserer Minderheiten wollen das auch. Schon Theodor Herzl wollte das, allerdings haben seine Vorstellungen mit der Realität des realen jüdischen Staates von dessen Gründung an, kaum Ähnlichkeit. Bis heute ist aber eine wirkliche Definition des „jüdischen Staates“ ausstehend. Denn das Judentum und Israel lassen sich nicht auf blosse Religion reduzieren. Deshalb frage ich: welchen jüdischen Staat wollen wir?
1. Der jüdische Gottesstaat?
Was soll es sein: ein Staat, in dem die Halacha herrscht, ähnlich wie die Schariah der Islamisten, mit barbarischen Sitten und Gesetzen, die wenigstens in der westlichen Welt heute nicht mehr existieren (Ausnahme: die Todesstrafe in Teilen der USA). Wie etwa die Stellung der Frau als Eigentum des Mannes und ähnlichem, in dem die Ausübung einer anderen Religion unter Strafe gestellt wird wie in Saudiarabien und in dem religiöse Paranoia das gegenseitig respektvolles Zusammenleben (wie wir Juden es uns in der Galut wünschten, aber nicht immer erfuhren) mit nichtjüdischen Menschen verunmöglicht? In dem die „Goyim“ als zweitklassige Menschen gesehen und behandelt werden, wie die Dhimmis der muslimischen Welt. Vielleicht würde die schweigende Mehrheit der einer Konsumkultur frönenden Bürger aus ihrer politischen Trägheit erwachen und dagegen kämpfen, dass auf der einen Seite eine parasitäre Minderheit machthungriger Rabbis und ihre mehrheitlich arbeitsscheuen ultraorthodoxen Jünger zusammen mit fanatischen rechtsextremen Gruppierungen einen auf antiken Prinzipien und Gesetzen ruhenden Staat der Juden beherrscht. Dieses Nachäffen islamistischer Theokratien à la Iran, Gaza und Saudiarabien (von Afghanistan ganz zu schweigen) auf jüdische Art, wäre das Ende des modernen und nur deshalb lebensfähigen und erfolgreichen Staates Israel. Denn diese Gesellschaft bringt unserem Staat und seinen Bürgern kaum irgendeine wirkliche Wertschöpfung. Die ultraorthodoxe Gesellschaft produziert mehrheitlich ausser riesigen Kindermengen nichts, lebt auf Kosten der Steuerzahler, denn sie lehnen es mehrheitlich ab, sich und ihre Familien durch Arbeit zu ernähren – auch wenn inzwischen einige von ihnen an "koscheren Hochschulen" studieren und gar „koscheren“ Militärdienst in frauenfreien Einheiten leisten. Ultranationalisten, observante Juden und Sekuläre, verwenden ihren modernen aber wenig aufgeklärten Lebensstil vor allem dazu, sich als „Übermenschen“ konfrontativ der grossisraelischen Idee zu widmen und demonstrativ mit einer Pistole am Bauch herumzulaufen. Ein Albtraum.
2. Der sekuläre liberal-kapitalistische jüdische Staat?
Die zweite Möglichkeit wäre ein sekulärer moderner Staat, wie er heute besteht, auch wenn die soziale Komponente aus dem Ruder gelaufen ist. Die israelische Wirtschaft blüht, die Wachstumsraten sind erfreulich, der durchschnittliche Lebensstandard ist jedoch am sinken und die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter, wie in vielen westlichen Ländern auch. Aktives Interesse des israelischen Durchschnittsbürgers an israelischer Politik und Sicherheit erwacht nur in Krisenzeiten. Sobald eine solche vorbei ist, schläft dieses Interesse wieder ein, etwas, das leider an Wahlen, die ja bei uns viel zu häufig stattfinden, zu beobachten ist. Diese Wahlfaulheit ist auch das Grundübel der innenpolitischen Malaise – würden mehr aufgeklärte Bürger, die es sehr wohl gibt, an Wahlen teilnehmen und an der Urne für vernunftgesteuerte Parteien und Politiker stimmen, die eine Regierung eben der Vernunft und des Ausgleichs ermöglichen würde, könnte der Einfluss ideologischen und religiösen Extremismus eingedämmt werden. Eine solche Regierung könnte dafür sorgen, dass (unter anderem) Religion Privatsache wird. Guter Jude und aufgeklärter Zionist kann man auch ohne Gott und Religion sein, eine Tatsache, die von vielen noch nicht erkannt worden ist, auch wenn die Gründung Israels in 1947 und sein dem vorhergehenden Aufbau der staatlichen Infrastruktur durch die Jewish Agency, im Wesentlichen genau durch Leute dieses modernen politischen und nicht des religiösen Zionismus vorangetrieben worden ist. Diese Regierungen, die auch Fehler machten (welche Regierung tut das nicht), man denke an die Militärregierung (Military Government) für unsere arabische Minderheit bis 1966, als die Regierung Israels endlich einsah, dass man sich damit nur in den eigenen Fuss schoss, da nur der arabische Widerwillen gegen den jüdischen Staat gefördert wurde, vom rechtlichen Aspekt ganz zu schweigen. Nachwirkungen davon sind bis heute zu spüren.
3. Der jüdisch-light Staat sekulärer Judentum-Nostalgiker?
Oh, da gibt es noch eine dritte Variante, den religiös neutralen statt orthodoxen jüdischen Staat, der das Verhalten seiner Bürger beim Essen, Reisen, am Schabbat, beim Heiraten, bei Geburten, beim Sterben, bei Scheidungen und anderen zivilen Ereignissen, sich nicht vom Staat das letzte Detail vorschreiben lassen will. Ein jüdischer Staat, der sich nicht ausschliesslich durch Kaschrut definiert, sondern anders denkende und sekuläre Juden anerkennt und sie nicht religiösem Diktat unterwirft. Jüdische Feste sind wunderschön, besitzen viel Gehalt und Tiefe und auch wenig oder gar nicht religiös observante Juden feiern sie gerne. Sie gehören dem gesamten jüdischen Volk Doch an Jom Kippur, dem unfreiwilligen aber begrüssenswerten autofreien Tag Israels, werden auf Ambulanzen Steine geworfen, obwohl eigentlich jeder weiss, dass diese nicht zum Vergnügen Kranke oder gar Sterbende ins Spital fahren. Dasselbe gilt auf die von den Haredim ausgeübte Opfer fordernde Gewalt gegen Zivilisten und Polizei, vor allem in Jerusalem. Da mehrheitlich aschkenasische Haredim den Staat Israel nicht anerkennen, ihn hassen, aber dennoch schamlos auf dessen Kosten leben, züchtet dieser Staat, in dem er diese Leute nicht genügend in die Schranken weist, eine schnell wachsende, dem demokratischen Leben gefährliche, Kolonne jüdischer „Jihadisten“.
4. Der jüdische Staat all seiner Bürger?
Da gibt es noch die vierte Variante, die des Staates aller seiner Bürger. Ein solcher Staat kann unmöglich verwirklicht werden, solange Israel keine Verfassung besitzt. Charakter des Staates, Grundrechte und Pflichten von Bürgern und Regierung müssen klar und unumstösslich festgelegt sein, auf einer, einem modernen aufgeklärten Staat entsprechenden Grundlage. Diese Verfassung müsste für die gesamte Bevölkerung Israels, Juden, Araber und alle anderen Minderheiten verpflichtend sein. Religion wäre Privatsache. Ausnahmen wären auch für die Frömmsten der Frommen nicht vorgesehen, vielleicht sogar verboten. Auch ein solcher Staat kann und soll ohne weiteres ein jüdischer Staat sein. Seine Verfassung und die darauf fussende Gesetzgebung wird von der Mehrheit der Bürger bestimmt, die nun mal jüdisch ist. Sie können, d.h. die Volksvertreter in der Knesset, unter voller Beachtung demokratischer Grundsätze für Minderheiten, Einwanderungsbestimmung erlassen, welche diese jüdische Mehrheit sichert. Da die Geburtsrate der Ultraorthodoxen doppelt so hoch ist, wie die der arabischen Bevölkerung, sollte das zu bewerkstelligen sein. Allerdings liegen auch hier Probleme vor, die in einer Verfassung verhindert werden müssten, wie eben der Einfluss der Religion auf die Demokratie. Andere demokratische Länder haben solche Gesetze, die allerdings für jüdische Flüchtlinge während des Zweiten Weltkrieges oft zu deren tödlichen Nachteil ausgelegt worden sind. Aber jeder moderne Staat – und das wollen wir sein – braucht integrierte Minderheiten, die ihn zwingen seine Humanität zu bewahren, um nicht nur neben ihnen, sondern mit ihnen als gleichberechtigte, dem Staatswesen beitragende Mitbürger zu leben.
Zusammenfassend denke ich, dass es einen jüdischer Staat, der nicht demokratisch ist, der autistisch nur sich selbst sieht und den Rest der Welt und deren Existenz und Nöte aus seinem Bewusstsein ausklammert, nicht geben darf. In der Variante des halachischen Gottesstaates (1) würde die Westbank annektiert, die dort lebenden Palästinenser und letztendlich auch die arabischen Bürger Israels wären tatsächlich zu einem Leben unter einem Apartheidregime verurteilt. Eine solche „jüdische“ Gesellschaft ist für die allermeisten Israelis ungeniessbar, ein Verrat an der humanistisch-demokratischen zionistischen Idee. Gerade die Besten der heutigen Gesellschaft könnten das nicht ertragen und würden auswandern, denn eine Gesellschaft, in der primitiver religiöser Fanatismus und Rassismus herrscht, wäre eine Gesellschaft des ewigen Krieges, der Gewalt und in absolutem Widerspruch zu allem, für das wir bisher eingestanden sind und das Israel zu einem der grossen Erfolge der vergangenen hundert Jahre gemacht hat. Das unabhängig von der ständigen existenziellen Gefahr durch die arabisch-islamische Welt, in der Israel seit seinem Entstehen existiert. Meine alte These, dass wir nicht eines Tages aufwachen wollen und einen „jüdischen Staat“ vor finden, den zu unterstützen es sich nicht mehr lohnt, darf sich nicht verwirklichen. Davon sind wir heute weniger weit entfernt, als wir gerne denken, die Gefahr einer versuchten Machtübernahme durch rechtsextremistische Kreise besteht. Rabins Ermordung hat uns das demonstriert. Das Benehmen extremistischer Siedler und der Hügeljugend, ihr Hass auf israelische Soldaten und Polizisten, ihre gewalttätigen Angriffen auf Oliven erntende Palästinenser, die Erziehung zum Araberhass jüdischer Kinder in Hebron, dass alles müsste in israelischen Köpfen eigentlich Sturm läuten. Wir müssen uns dem bewusst sein und uns davor schützen. Darum ist dem Preis eines jüdischen Staates eine Grenze zu setzen. Ein jüdischer Staat um jeden Preis? Nein!
Dienstag, 20. Oktober 2009
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