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Seit er sich 2007 in Israel niederliess, war Uri Themal pädagogischer Direktor bei Berlitz Israel. Davor lebte er in Australien, wo er einer der Initianten der dortigen Politik des Multikulturalismus war und als Generaldirektor einem Ministerium im Staate Queensland vorstand, das für Multikulturalismus in diesem Staat verantwortlich war. Er war einer der Gründer multikultureller Medien und Initiant der Integrationspolitik für Flüchtlinge, wofür er mit dem Australischen Orden ausgezeichnet wurde.
Uri Themal wurde 1940 in Berlin geboren und hat mit seinen Eltern den Krieg dort als Illegale überlebt. Uri hat Politologie studiert und ist ausgebildeter Reformrabbiner.
Interview mit Uri Themal
Uri Russak: Wir beide sehen den wachsenden Rassismus jüdischer Israeli gegenüber Minderheiten, vor allem unseren israelischen Arabern aber auch Flüchtlingen aus Afrika und Gastarbeitern aus Fernost gegenüber. Wie konnte sich eine solche Situation im Staat der Juden entwickeln?
Uri Themal: Es ist wirklich schwer zu begreifen und es schmerzt jeden, der das Judentum liebt. Wie sich gerade in Israel ein solches Phänomen entwickeln konnte, hat mit seiner politischen Geschichte zu tun.
Seit Staatsgründung war es nur möglich mit Hilfe von Koalitionen Regierungen zu bilden. In jeder Regierung musste auch religiösen Parteien Platz eingeräumt werden. Da es in Israel keine echte Trennung zwischen Religion und Staat gibt, haben diese Parteien viel Macht. Es gibt in Israel keine Verfassung und wird sie wahrscheinlich auch nie geben. Es gibt zwar ein Grundgesetz, aber dieses gibt nur einen gesetzlichen Rahmen. Wenn dieses Grundgesetz verletzt wird, muss das Oberste Gericht entscheiden. Das heisst, dass es bisher nie eine echte Debatte gab, welchen Charakter der Staat haben soll oder auf welchen ethischen, moralischen und philosophischen Prinzipien er aufgebaut ist. Das Gericht entscheidet nur gerade die bestimmten pragmatischen Fragen, die ihm vorgelegt werden.
Eine Verfassung würde Debatten über den Charakter des Staates verlangen und gerade deshalb wird es wahrscheinlich nie eine geben. Die Debatte würde wohl nie über die Präambel hinwegkommen, in der die Natur des Staates definiert wird: Sind wir ein jüdischen Staat oder ein Staat der Juden? Wenn Netanyahu erklärt, dass wir ein jüdischer demokratischer Staat sind, muss erklärt werden, was das bedeutet. Bisher gibt es kein gemeinsames Verständnis darüber.
UR: Wie verträgt sich Rassismus und Fremdenhass mit Zionismus und Judentum? Ist er diesen nicht diametral entgegengesetzt?
UT: Ja. Rassismus und Fremdenhass sind mit dem Judentum nicht zu vereinbaren. Schon in der Torah wird betont, dass wir den Fremden lieben und schützen müssen, ja, dass er so behandelt werden muss, wie der im Lande ansässige. Dieses Gebot erscheint öfter in der Torah als viele andere, die mit Ritual oder Kriminalität zu tun haben. Aus der Torah bekommen wir auch das Prinzip der Nächstenliebe und vom Talmud Hillels goldene Regel, anderen nicht das anzutun, was uns selber verhasst ist.
Auch mit Zionismus sind Rassismus und Fremdenhass nicht vereinbar. Der politische Zionismus oder jüdischer Nationalismus, entwickelte sich als Reaktion auf 2000 Jahre Judenhass. Die antisemitische Dreyfussaffäre im Frankreich des 19. Jahrhunderts führte schließlich dazu, dass Herzl als Lösung die Gründung eines jüdischen Staates im historischen Land des jüdischen Volkes sah. In anderen Worten, der Staat wurde gegründet um Juden die Möglichkeit zu geben, sich dort vor Rassismus zu schützen. Es ist beschämend, das sechzig Jahre später, gerade hier Hillels Regel auf den Kopf gestellt wird: Hier wird jetzt anderen angetan, was uns verhasst ist!
UR: Wo sind die jüdischen Werte?
UT: Die jüdischen Werte sind da, aber werden verschieden vertreten. Es ist ironisch, dass heute die Werte von Humanität, Gerechtigkeit und Freiheit von den säkularen und liberalen Juden vertreten werden. Es sind die radikal orthodoxen Gemeinden und Parteien, die ihre Existenz damit rechtfertigen, dass sie die Torah und das Judentum schützen, behüten und bewahren wollen, die diesen Hass, Rassismus und Xenophobie verbreiten. Ich frage mich, wo sie das im Judentum finden? Bestimmt nicht in der Torah, die ich lese und auch nicht in meiner jüdischen Tradition!
UR: Wohin führt diese sich fast täglich weiter verbreitende Einstellung des jüdischen Israelis?
UT: Sie führt zur Rechtfertigung jener, die erklären, dass Israel ein Apartheidstaat sei, den man boykottieren muss. Schlimmer noch, sie führt zu interner Spaltung. Wir sind nicht mehr ein Staat, sondern mehrere: säkulare Juden, ultra-orthodoxe Juden, liberale Juden, christliche und muslimische Araber, Drusen sind die großen Gemeinden. Dazu kommen noch Minderheiten wie Fremdarbeiter, Flüchtlinge kommen. Das alles wird zusammen gehalten durch das „Sicherheitsproblem“. Da Israel dauernd von äusseren Feinden bedroht wird, versuchen fast alle im Land irgendwie offene Konflikte zu vermeiden. Sollte aber dieser Rassismus und Fremdenhass konkretere Formen annehmen, gibt es keine Garantie, dass es nicht zu offenen Konflikten kommt. In diesem Falle ist Israels Sicherheit und sogar seine Existenz bedroht, besonders wenn solche Konflikte von den äusseren Feinden ausgenutzt werden.
UR: Wir leben in einer Region religiöser und politischer Extremisten, die die Welt bedrohen. Ist das vorliegende Phänomen jüdischen Rassismus eine Art Anpassung an unsere Umgebung?
UT: Von den Ultra-orthodoxen bestimmt, obwohl nicht bewusst. Es gibt für mich kein unterschied zwischen einem Shaaria Staat wie Iran oder Saudi-Arabien und einem Halachastaat wie ihn die Ultra-Orthodoxen wollen.
UR: Warum findest Du, dass wir jüdischen Israelis uns gegen den Rassismus aus den eigenen Reihen wehren müssen?
UT: Ich bin ein Überlebender der Shoah, ein bewusster liberaler Jude und Zionist. Ich glaube an die jüdischen Werte und Prinzipien, sowie an die historische Notwendigkeit und Richtigkeit der Gründung des Staates Israel. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie diese Werte von Mitgliedern meines Volkes missbraucht und verraten werden. Wenn wir unseren Selbstrespekt erhalten und den Respekt der Welt wieder gewinnen wollen, müssen wir unser eigenes Nest säubern.
UR: Wie manifestiert sich dieser Rassismus und Fremdenhass in unserem Land?
UT: Die Regierung ist machtlos oder hat nicht den politischen Willen Rassismus und Fremdenhass zu bekämpfen, obwohl diese teilweise aus den eigenen Reihen stammen. Unser Innenminister, selbst ein ultra-orthodoxer Jude, will Fremdarbeiter und Flüchtlinge vertreiben und schürt den Hass gegen diese. Orthodoxe Rabbiner, die vom Staat bezahlt werden und zu einem grossen Teile Beamte sind, veröffentlichen Hetzbriefe, dazu aufrufend Arabern keine Wohnungen zu vermieten, ihnen kein Land und Häuser zu verkaufen und sie nicht als Arbeiter anzustellen. Sie entscheiden auch, wer vom Staat als Jude anerkannt wird und daher, wer nach Israel einwandern darf, wer hier als Staatsbürger leben kann, wer hier wen heiraten darf und in welche Schulen ihre Kinder gehen können. Das sind nur einige Beispiele, die ich mit großer Sorge beobachte.
UR: Was kann man dagegen tun?
UT: Da die Regierung fast nichts dagegen unternimmt, muss jener Teil der Bevölkerung, der sich um den Staat und seine Existenz Sorge macht, handeln. Es laufen jetzt schon Klagen vor dem Obersten Gerichtshof, die von NGOs eingebracht wurden. Es muss auch Bürgerinitiativen geben, die Druck auf die Regierung ausüben, im Sinne von Demokratie und jüdischen Werten zu handeln. Diesen Hetzrabbiner muss gekündigt, die Ultra-orthodoxen Parteien müssen aus der Koalition entfernt und Antidiskriminierungsgesetze müssen effektiv durchgesetzt werden. Öffentlicher Druck muss zu Neuwahlen führen, wenn diese Regierung nicht im Stande ist Diskriminierung zu verhindern.
UR: Warum müssen wir uns vor einer Relativierung hüten?
UT: Relativierung ist immer eine Gefahr: Wir sind vielleicht nicht so schlimm wie manche, aber auch nicht besser als viele. Unsere biblischen Propheten wollten, dass wir ein leuchtendes Beispiel für die Völker der Welt sein sollten. Folgendes ist die Antithese der Relativierung: Wir müssen Massstäbe setzen für ethisches und moralisches Verhalten, für Humanität und Gerechtigkeit und danach handeln. Der Olympiasieger misst sein streben nach Erfolg nicht am Verlierer sondern am vorherigen Gewinner und versucht besser zu sein. Relativierung ist eine Ausrede und oft eine Rechtfertigung dessen, was sich nicht rechtfertigen lässt. Wir alle sind mit dem Dialog des Schuldigen aufgewachsen: wenn wir etwas taten, was unsere Eltern uns verboten hatten, benutzten wir die Ausrede, dass andere das auch taten. Wenn ich das sagte, antwortete meine Mutter immer: “Wenn andere ins Wasser springen, tust du das auch?“ Wir Juden sollten uns nicht an den Maßstäben anderer messen und dürfen nicht Menschenrechte verletzen, bloß weil es andere auch tun. Wir dürfen uns besonders nicht am Verhalten unserer Feinde messen. Mit wem vergleichen wir uns? Mit Iran, Saudi-Arabien? Wenn wir das tun, verlieren wir unsere Existenzberechtigung als Staat.
Seit 3500 Jahren haben wir die Werte gesetzt, die heute von den westlichen Demokratien vertreten werden, Werte, die als Grundlagen unserer Zivilisation dienen. Wie vergleichen wir uns mit den Nationen und Völkern, die diese Werte vertreten? Im Moment werden wir von ihnen nicht sehr respektiert. Die Reaktionen schwanken zwischen denen, die uns noch tolerieren bis zu jenen, die uns verachten auf der anderen Seite und dann gibt es viele ehemalige Freunde, die mit uns nichts mehr zu tun haben wollen.
UR: Wird humanistisches Benehmen der Juden von der Umwelt überhaupt wahrgenommen und wenn ja wie?
UT: Die Umwelt schaut mit Sorge auf Israel. Unser Verhalten gegenüber den Palästinensern wird täglich beobachtet und von den internationalen Medien berichtet. Die Schikanen der Siedler gegenüber ihren palästinensischen Nachbarn werden berichtet und der Häuserbau in den Siedlungen ist in ständiger Debatte. Das stellt Israels Rechtstaatlichkeit, sowie seinen Humanismus in Frage.
Vielleicht werden die internen rassistischen Einzelheiten verdrängt von den dramatischen Schlagzeilen anderer Ereignisse wie der Aufstand in Ägypten, Fluten in Australien und Brasilien oder dem Krieg in Afghanistan, aber das bedeutet nicht, dass die Welt davon nichts weiss. Heute kommen Informationen aus persönlichen Quellen und gehen um die Welt mit dem Internet. Diese Informationen formen heute die Weltmeinung fast stärker, als öffentliche Medien.
UR: Welche Massnahmen schlägst Du vor, um diesen Rassismus, der in Israel nun auch schon Gesetzesvorlagen produziert, zu bekämpfen. Was können wir tun und wer muss noch zusätzlich mitziehen?
UT: Wir müssen die Öffentlichkeit in Israel warnen und mobilisieren. Es gibt, Gott sei Dank, noch viele, bestimmt jetzt noch eine Mehrheit, die diese Erscheinungen verabscheut. Diese Kräfte müssen sich zusammen tun und gegen diesen Rassismus öffentlich kämpfen. Jene, die Zugang zu Medien haben, müssen ihre Stimmen hören lassen. Jene, die konkrete Fälle vor Gericht bringen können, müssen es tun. Jene, die Mitglieder von politischen Parteien, die gegen diese Entwicklung sind, müssen ihre Knessetmitglieder dazu bewegen, auf parlamentarischem Weg dieses Krebsgeschwür zu entfernen. Wir alle müssen handeln!
UR: Falls sich dieser israelische Rassismus weiter ausbreitet, siehst Du die Zukunft des Staates der Juden als moderner demokratischer Staat gefährdet?
UT: Ja, wie schon gesagt, ich sehe eine große Gefahr für den Staat Israel. Interner Bürgerkrieg und externer Angriff können zusammen kommen und den Staat zerstören. Aber auch Apathie kann den Staat gefährden, wenn wir den Extremismus nicht beseitigen.
UR: Wie definierst Du und was hältst Du von Begriffen 1. jüdisch-demokratisch, 2. jüdischer Staat und 3. Staat der Juden
UT: Ich glaube, dass alle diese Begriffe problematisch sind.
1. Liberal-jüdisch und demokratisch sind gut miteinander zu verbinden. Viele der jüdischen Werte sind auch Werte der Demokratie. Aber in Israel sehen sich die Ultra-Orthodoxen als die einzigen, echten und legitimen Vertreter des Judentums. Ihre selektive und enge Interpretation des Judentums ist autoritär, demagogisch und anti-demokratisch. Daher werden wir nie eine echte Demokratie sein, solange diese Richtung in der Regierungskoalition sitzt, antidemokratische Gesetze entwickelt und mitbestimmt und Beamte von Steuergeldern bezahlt, die offen gegen alle diskriminieren, die nicht in ihr Bild vom jüdischen Staat passen.
2. Wir sind kein kompletter jüdischer Staat. Zwar gibt es jüdische Elemente, aber das an sich macht nicht den jüdischen Staat: Hebräisch ist die Landessprache, öffentliche Feiertage sind die jüdischen Feiertage, jüdische Bibel- und Geschichtskenntnis sind Pflichtfächer in den Schulen und Eheschliessungen, Zivilstatus und Ritualfragen sind völlig in den Händen des Rabbinats. In absoluter Form würde der jüdische Staat auf jüdischen Gesetzen beruhen und, wie gesagt, würde das zu einer katastrophalen Theokratie führen, die von Natur aus antidemokratisch und autoritär ist.
3. Israel wurde als Staat für Juden gegründet, mit historischer Berechtigung. Aber es ist nicht der Staat der Juden. Mehr Juden leben ausserhalb Israels, als in Israel selbst; in Israel leben Minderheiten, deren grösste die der israelischen Araber von rund 20% ist. Israel ist also ein besonderer Fall und die Frage, ob es ein jüdischer Staat oder ein Staat von Juden ist, muss noch geklärt werden. Inzwischen sollten wir einfach Israel sein, ein demokratischer, pluralistischer Rechtsstaat, der durch Anwendung seiner traditionellen Ethik, Humanität und Gerechtigkeit die Loyalität aller Mitbürger verdient und fördert.
UR: Lieber Uri Themal, ich danke Dir für das Gespräch.
3 Kommentare:
Ausgezeichnetes Inerview, identifiziere mich mit fast allem. Aber nachdem wir während 25 Jahren, in denen wir (meine Frau und ich) in Israel lebten, fast dauernd gegen den Strom geschwommen sind, gehe ich heute, wo wir je zur Hälfte in Israel und der Schweiz leben und die Lage in IL rapide schlechter und der Extremismus stärker wird,auf keine Barrikaden mehr. Ein einzelner kann ausser in seinem kleinen persönlichen Umfeld sowieso nichts ausrichten. Eine grosse Zahl Gleichgesinnter zu finden, die bereit sind politisch aktiv zu werden und Druck aus zu üben, wird man wohl kaum finden, ich bezweifle, dass es heute eine solche Mehrheit für die geschilderten jüdischen und demokratischen Werte überhaupt noch gibt.
Peter Joel Hurwitz, Kfar Vradim Israel und Sissach, Schweiz
Liebe Uri & Uri,
Ausgrenzung und Hass habe ich auch in der Schweiz kennengelernt.
In meiner Jugend. Und zwar von orthodoxen Juden. Ich hoffe gerne, einmal etwas ausführlicher darüber in Deinem Blog zu berichten. Alexander Scheiner
Lieber Alex, wir warten drauf. Uri & Uri
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