Dienstag, 15. November 2011

Wie lange noch israelische Demokratie?



Wie ich selbst, sind fast alle Israelis stolz in einer wirklichen Demokratie zu leben. Der einzigen im gesamten Mittleren Osten und Nordafrika. Exekutive und Judikative sind voneinander unabhängig, die Meinungsfreiheit ist umfassend und jeder darf ungehindert öffentlich sagen, schimpfen und kritisieren was er will. Israel besitzt eine Demokratie ohne wenn und aber westlichen Stils.

In den vergangenen Monaten sind von Parlamentarien vorwiegend rechtsextremer Provenienz Gesetzesanträge eingebracht worden, die mit demokratischen Grundsätzen völlig unvereinbar sind. Dieser Vorgang ist ein gefährliches Zeichen eines gefährlichen Rechtsrutsches in der israelischen Politik. Weg von der demokratischen Tradition des Landes und in die Nähe autoritärem, vielleicht sogar totalitärem, Demokratie verachtendem Staatsverständnis. Etwas das dem israelischen Sommer der Demonstrationen für ein verbessertes Sozialverständnis, gegenseitiger Verantwortung für Staat und Mitbürger, wie eine kalte Dusche entgegensteht und beweist, wie wenig Nethanyahus Regierung sich um den Willen des Volkes schert. Zwar gibt es auch beim Likud Knessetabgeordnete, die diese antidemokratischen Bestrebungen scharf bekämpfen und als wirkliche Demokraten beweisen. Doch sind sie eine Minderheit in ihrer Partei der Scharfmacher.

Hier sollen einige dieser Gesetzesvorschläge und Trends dieser Art kurz beschrieben werden:

Limitierung und Besteuerung ausländischer Spenden an „linke“ NGOs
Mit linken NGOs sind beispielsweise auch rein israelische Organisationen wie „Frieden jetzt“ oder das der Kibbuzorganisation Haschomer Hazair entsprungene Friedenszentrum Givat Haviva gemeint, die in vielen westlichen Ländern Unterstützungsgruppen haben. Aber sie arbeiten für Frieden und stellen – besonders „Frieden jetzt“ erfolgreich israelische Verfehlungen in den besetzten Gebieten bloss. Das missfällt besonders Siedlerkreisen und deren Sympathisanten, die den Zionismus als autoritäres und kolonialistisches Unterfangen sehen wollen, etwas das er nie war und nicht ist. Im heutigen Haaretz ist zu entnehmen, dass rechtsextreme Organisationen weit mehr finanzielle Unterstützung erhalten als „linke“, sehr viel davon Einzelspenden in extremer Höhe.

Verpolitisierung der Gerichte
Hier geht es um die Wahl neuer Richter für das Oberste Gericht Israels, das seit Jahrzehnten eine gegenüber reaktionärer Gesetzgebung und überrissenem Nationalismus vor allem aus rechtsextremer Seite, eine ausgleichende Rolle spielt und von der politisch Rechten als „linksextrem“ betrachtet wird. In einem Gesetzesvorschlag sollen politische Gremien Einfluss auf die Wahl neuer Richter nehmen, was zur völligen Politisierung der Gerichtsbarkeit führen würde. Diese Vorlage wir gerade von Regierungsgremien diskutiert und die Gefahr, dass sie angenommen wird, ist beträchtlich.

Die Armee verfrömmelt und das orthodoxe und ultraorthodoxe Establishment versucht seinen Einfluss stetig zu steigern
Schon im Israel aufgezwungen Unabhängigkeitskrieg in 1948 kämpfen weibliche Soldaten neben ihren männlichen Kameraden. Sie trugen massgeblich dazu bei den arabischen Angriff abzuwehren und das Weiterbestehen des eben entstandenen Staates zu sichern. Leider gibt es heute destruktive Kräfte, die den weiblichen Beitrag zu den erfolgreichen dreiundsechzig Jahren israelischen Bestehens mit Verachtung betrachten. Gemäss orthodoxer Dogmen sollen Frauen nicht gesehen werden, sind zweitklassig und nun wollen einige übersteigert fromme diese „Tradition“ der Armee aufzwingen. Der steigende Einfluss religiös-reaktionärer Sitten und Gebräuche in der IDF (Israel Defense Forces) stellt vor allem nicht akzeptable mittelalterliche Ansprüche an Soldatinnen und beschämt und demotiviert sie. So sollen sie sich nicht mit männlichen Soldaten an öffentlichen Anlässen aufhalten oder gar mitwirken, sondern, wie es die Orthodoxie vorschreibt, sich nur getrennt von ihren männlichen Kameraden aufhalten dürfen. Sie sollen keine kombatante Aufgaben mehr haben, nicht mehr als Waffeninstruktorinnen wirken und auch, wie es extremistische Orthodoxie vorschreibt, nicht vor Männern singen dürfen. Am besten wohl, man würde keine weiblichen Soldaten mehr sehen. 19 Generälen schrieben an den Generalstabschef, diese Ausgeburten frommer Manie zu unterbinden. Sollte das nicht geschehen, würde die IDF vermehrt in den Fängen religiöser Extremisten landen und ihren Anspruch die Armee aller Bürger zu sein verlieren. Die Folgen wären vorauszusehen aber für das Land nicht zu verantworten. Anlässlich einer Feier der Offiziersschule Bahad 1 wurden vier religiöse Kadetten umgehenden aus dem Kurs geworfen, da sie die Feier wegen singenden Mädchen verliessen (fromme Juden dürfen das nicht hören, sie könnten doch eine verbotene Erektion bekommen). Das ist bisher die einzige positive Reaktion auf diesen Skandal. Es müsste gesetzlich geregelt werden, dass Religion in der Armee nichts zu suchen hat, genau so wie sie eigentlich in der Politik auch nichts zu suchen hätte. Sonst gerät die Armee eines Tages in die Situation, dass Rabbiner militärischen Kommandanten Befehle geben würden, was gefährlich und an die Kommissare der Roten Armee erinnert, deren Befehlsgewalt sogar über derjenigen der Generäle lag.

Bestrafung jener, die zum Boykott der Siedlungen und deren Produkte aufrufen und Israels Siedler- und Bauaktivitäten auf der Westbank kritisieren
Ich bin auch kein Sympathisant der Siedler auf der Westbank, verabscheue ihr gewalttätiges Auftreten gegenüber Palästinensern und Juden, die nicht mir ihren Ansichten einverstanden sind. Darüber kann man reden und schreiben – das ist alles diskutierbar. Aber im Israel der freien Gesellschaft herrscht noch immer Meinungsfreiheit und jeder kann und darf offen seine Ansicht zu allen Themen darlegen. Auch wenn das vielen nicht passt. Sollte das geplante Gesetz, das solches bestrafen will, angenommen werden, wird sich Israel zu einem grossen Teil aus der demokratischen Welt selbst entfernen. Es hätte sich dann in seinem Kern einen weiteren Schritt in die politische Unkultur seiner Nachbarländer integriert. Die heutige jüdische Leitkultur ist inhärent westlich und darf sich nicht mit Maulkörben abfinden.

Das Oxymoron – jüdischer Staat mit demokratischer Regierung
Was im Mittelalter die Regel war, ist heute nicht mehr zu vertreten. Man kann ohne weiteres religiös sein und demokratisches Leben achten. Aber in der Politik hat Religion nichts zu suchen. Professor und Alt-Botschafter (Deutschland) Avi Primor vom IDC Herzlia beschrieb das in einem Interview mit der WELT schon in 1999 so:

„… die ultraorthodoxe Schas-Partei (und andere religiöse Parteien in Israel) als undemokratisch, weil sie, so der Alt-Botschafter Avi Primor, „auf göttlichem Gesetz und den Worten der Rabbiner“ statt auf parlamentarischen bzw. demokratischen Grundsätzen beruhe.“

Eine Gesetzesvorlage für einen jüdischen Staat, in der Jüdischkeit als Leitfaden für die Gesetzgebung verlangt wird – demokratische Prinzipien wären dieser untergeordnet – wartet im Rohr. Ich hoffe sie wird zum Rohrkrepierer. Interessanterweise stammt diese Idee vom ehemaligen Geheimdienstchef und Terroristenfänger Avi Dichter, einem sekulären Juden, der als Mitglied der eigentlich sehr bürgerlichen Partei Kadima in der Knesset sitzt. Seine Parteichefin Zippi Livni ist entsetzt über diesen Gesetzesvorschlag und lehnt ihn ab (wie auch den Skandal der Frauenfrage in der Armee). Unterstützung könnte aus rechtsextremen, vor allem religiösen Kreisen, denen Demokratie grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. Die Entscheidung ist noch offen.
Soeben wurde mitgeteilt, dass diese Gesetzesvorlage abgeändert worden ist. Demokratie soll nun doch über der Jüdischkeit stehen. Wie genau das aussehen soll, bleibt abzuwarten.

Heiratsgesetz
Palästinenser, die Israelis heiraten, dürfen nach einem neuen Gesetz nicht mehr in Israel wohnen. Ehepartner müssen sich nach dem Parlaments-Beschluss zwischen einer Trennung und einem Wegzug aus Israel entscheiden. Das Gesetz ist rassistisch, undemokratisch und diskriminierend.

Sicherheits-Überlegungen können das neue Gesetz nicht rechtfertigen, betonen Menschenrechts-Gruppen. Die neue Regelung laufe auf eine kollektive Bestrafung hinaus. Auch die Vorsitzende der Meretz-Fraktion in der Knesset, Zahava Gal-On, betonte, man dürfe Sicherheits-Erwägungen nicht zur Begründung "einer solchen Verletzung der Bürgerrechte verwenden".

Schlussfolgerung
Israel muss sich auffangen und den rapid wachsenden Trend weg von demokratischen Prinzipien stoppen und seine Politik wieder vermehrt nach solchen führen. Die grundsätzlich fehlende Bereitschaft der Palästinenser zu einem für Israel akzeptablen Friedensabkommen und die zurzeit von reaktionären Kreisen beherrschte Regierungspolitik macht das schwierig. Ich sehe die heutige Macht in den Händen folgender drei politischer Gruppierungen liegen:

·       Neueinwanderer aus Russland, vertreten durch Aussenminister Yvet Lieberman und seine Anhänger, die einer Art Stalinismus frönen und prinzipiell einen „starken Mann“ als Leithammel wollen. In Lieberman haben sie ihn gefunden.
·       Die Faschistoiden: Siedlerideologen, Nationalreligiöse und rechtsextreme Ultranationalisten (z.B. MK Michael Ben Ari, früherer Rabbi Kahane Anhänger, der den Mord an Rabin durch sein demonstratives Fernbleiben von der parlamentarischen Gedächtnisfeier implizit guthiess).
·       Die von ihren Rabbinern beherrschte Ultraorthodoxie, deren Lebensstil grundsätzlich antidemokratisch ist. Sie verkauft ihre Stimme den Meistbietenden für ihre eigenen parasitischen Anlagen, die, besonders in aschkenasischen Ultrakreisen, von der Ablehnung des Existenzrechtes Israels, traditioneller Ablehnung produktiver Arbeit und überrissenen materiellen Ansprüchen an den Staat geprägt sind.

Die wachsende Macht rechtsextremistischer Kräfte auf Kosten vernünftiger sozial und sicherheitspolitisch ausgleichender Kräfte ist vor allem ein Resultat politischer Misserfolge israelischer Friedenspolitik der vergangenen zwanzig Jahre. Sündenböcke zu suchen ist Unsinn. Die durch und durch unveränderliche Ablehnung sogar kleinster Kompromisse durch bisher sämtliche palästinensische Politiker, beruht auf  ihrer Weigerung jeden möglichen Staat der Juden als derer nationale Heimstätte zu akzeptieren. Sie bestehen auf einen absolut judenfreien Staat der Palästinenser , aber ein Staat der Juden ist für sie ein Tabu. Zur Zeit wird israelische Bautätigkeit in der Westbank als Ausrede bemüht – israelische Zugeständnisse wie der Abzug aus dem Libanon oder der Abzug aus Gaza, wird von unseren Feinden nicht als Zeichen guten Willens verstanden, sondern in traditioneller arabischer Art als Schwäche interpretiert. Das wiederum gibt jenen Israelis Aufwind, die den Standpunkt vertreten Palästinenser verstünden ausschliesslich Gewalt. Und genau diese Israelis bilden heute die Mehrheit in der Regierung Netanyahus – womit der Kreis ausweglos geschlossen ist.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Guter, informativer Text zur Entwiclung in Israel. Wirre griechische Kommentare.

Uris Tagebuch hat gesagt…

Ausgabe: Nr. 45 » 11. November 2011
Im jüdischen Wochenmagazin Tachles wird zum Thema der Kommentar von Staatspräsident Shimon Peres berichtet. Ich kann nur sagen, wir können auf ihn stolz sein. Uri


UMSTRITTENE GESETZESVORLAGEN IN ISRAEL
Harsche Kritik des Staatspräsidenten
16. November 2011
Shimon Peres: «Regierungen haben nicht zu herrschen, sondern zu dienen.»
Shimon Peres kritisiert die geplaten Gesetze als Schwächung der Demokratie.

Die dieser Tage von rechtsgerichteten Abgeordneten vor die Knesset gebrachte Gesetzesvorlagen zur Wahl von Richtern zum Obersten Gerichtshof wurden von Staatspräsident Shimon Peres als «Einschränkung der Ausdrucksfreiheit und Schwächung des israelischen Rechtssystems» kritisiert. Die Vorlagen würden von der «Basis der Demokratie» abweichen, sagte er. Eine Regierung werde nicht gewählt, um zu herrschen, sondern um zu dienen, fügte er hinzu. «Die Leistung eines jeden Politikers kann nur auf eine Art gemessen werden: Dient er uns oder dienen wir ihm?» Wer dienen wolle, müsse dem ganzen Volk dienen, ungeachtet der verschiedenen, oft miteinander kollidierenden Ansichten, die in ihm zu finden seien. «Herrschen ist ein Zeichen von Diktatur, während das Dienen die Demokratie definiert.» Anlässlich eines Auftritts vor Schülern in Kyriat Gat ging der Präsident auch hart ins Gericht mit den vor wenigen Tagen verabschiedeten Vorlagen, welche die ausländische Finanzierung israelischer Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) einschränken würden. «Was ist falsch daran», meinte Peres, «wenn Menschen für verschiedene Arten von Organisationen spenden? Wer entscheidet, was politisch ist?» [JU]

Hanspeter hat gesagt…

Hallo Uri
Welches von diesen Gesetzen wurde angenommen?
Viele liebe Grüsse
Hanspeter

Uris Tagebuch hat gesagt…

Spenden: linke NGOs: erste Lesung durch im Knesset

Gerichte: Gerade (heute) grosse wilde Diskussion im Knesset

Fromme Armee: Noch kein Gesetzesvorlage entworfen, Problem erkannt und wird behandelt. Resultat noch nicht abzusehen.

Boykott Westbank: erste Lesung im Knesset durch gekommen.

Religion und Demokratie: Gesetzesentwurf in den Kommissionen

Heiratsgesetz: In Diskussion

Allerding glaube ich nicht, dass eine dieser Vorlagen durchkommen. Die erst und zweite Lesung werden sie überleben, dann aber wird Nethanyahu durchgreifen müssen - international ist das unmöglich zu vertreten. Aber nur schon die Idee dazu, darf nicht einmal aufkommen.