Montag, 26. Dezember 2011

Parallelen



Erst ein Zitat, geklaut von Claudio Casula:Ich habe die gesamte palästinensische Friedensbewegung zum Essen eingeladen. So teuer wird’s schon nicht werden, Sari Nusseibeh ist ein bescheidener Mensch.“ Man kann auch über Trauriges lachen.

Wir Juden haben uns im Mittleren Osten ganz prächtig eingelebt. Religion und Traditionen des extremistischen Judentums und der extremistischen Muslime in den arabischen Ländern und in den nicht arabischen Staaten Iran und Türkei unterscheiden sich bald nur noch in Äusserlichkeiten – es sei denn, es wird wenigstens im jüdischen Israel etwas Drastisches geschehen. In der islamischen Welt bin ich da weit pessimistischer, trotz arabischem Frühling, der in kurzer Zeit übergangslos vom arabischen Winter abgelöst worden ist.

In beiden Religionen geht es dabei vor allem um "heilige" Traditionen, die meist weit älter sind, als die Religion selbst. Also heidnischen Ursprungs, dem ganz einfach und unreflektiert die jeweilige Religion übergestülpt worden ist. Das gilt für den relativ jungen Islam, aber auch für jüdische Bräuche, für die es immerhin bis gute 3000 Jahre archäologischen Nachweis gibt. Doch der Zustand in der heutigen Zeit ist für beide fatal.

Ich möchte mich auf vier Themen beschränken, bei denen jeder „Versteher“ (ein Broder-Wort) orientalischer Traditionen, seien diese noch so blutrünstig, sein Herz öffnet. Natürlich sind alle vier irgendwie miteinander verbunden. Dabei ist zu betonen, dass auch wir Juden grundsätzlich von der geschichtlichen, geographischen und religiösen Abstammung her zu den Orientalen gehören wollen – auch wenn viele von uns Namen wie Bloch, Müller, Meyer, Dreyfus, Bollag, Leibowitz, Russak oder Rosenstein usw. tragen. Es gibt einen Unterschied zwischen uns vor allem aschkenasischen Juden und der islamischen Welt: wir Juden haben die Aufklärung hinter uns, Muslime träumen noch nicht einmal davon. Doch gibt es leider mehr und mehr israelische Juden, die offensichtlich von dieser Aufklärung nichts mehr wissen wollen. Um das geht es.

Demokratie und freie Gesellschaft
Heute gibt es in muslimischen und israelischen Gesellschaften rechtsextremistische orthodox-religiöse Strömungen. Wie die kürzlichen Wahlen in vom arabischen „Frühling“ betroffenen Gesellschaften zeigen, gewinnen dort reaktionäre Parteien die Mehrheit. Die muslimische Reaktion ist im Aufschwung, die Einführung der Shariah wird verlangt, einer demokratischen Ordnung wird damit die Absage erteilt, denn Demokratie und Religion lassen sich nicht vereinbaren. Religion gehört in einem modernen Staat von diesem grundsätzlich getrennt und privatisiert. Zudem lassen arabische Traditionen eine wirkliche Demokratie nicht zu. Auch wenn die ägyptischen Muslimbrüder öffentlich das Gegenteil erklären. Sind sie erst einmal an der Macht, was die ägyptische Armee zurzeit gewalttätig zu verhindern sucht, bin ich überzeugt, dass diese Macht dann ohne demokratische, sondern mittels islamistischer Politik in eine theokratische Diktatur umgewandelt werden wird. Irans Khomeini hat der islamischen Welt 1979 gezeigt wie man das macht. Bei Ägyptens riesigen Demonstrationen für „Demokratie“ ging es nie um das Einführen eines demokratischen Regierungssystems und einer offenen Gesellschaft, sondern um wirtschaftliche Verbesserung der einzelnen Bürger. Der Islam hat sich, wie seinerzeit in Iran, die ägyptische Revolution angeeignet, wenn nicht gar gestohlen.

Israel wurde fast ausschliesslich von teilweise sogar marxistischen Sozialisten aufgebaut – auch wenn Theodor Herzl, Vater des politischen Zionismus, ein völlig angepasster europäischer Bürger der kolonialistischen Zeit war, wie die meisten der aufgeklärten Juden seiner Zeit. Israel, als Staat nach 1948, sollte nach dem Willen seiner Gründer und Pioniere der ersten Stunde als westlicher, aufgeklärter Staat erdacht und geführt werden, in dem Religion ihre eigene Nische haben sollte. Das ging dreissig Jahre lang einigermassen gut, doch die Gründerväter, zutiefst demokratischer Gesinnung, hatten nicht bedacht, dass eine Demokratie nur mit demokratisch gesinnten Bürgern aufgebaut und erhalten werden kann. Als sich im Laufe der siebziger und achtziger Jahre das Machtverhältnis von linker Aufklärung stetig mehr in einen reaktionären Nationalismus und eine noch reaktionärere ultraorthodoxe Religionsunkultur verwandelte, die erst die Besetzung der 1967 eroberten Westbank ideologische untermauerte und extremistischen Rabbinern der Haredim (Ultraorthodoxie) und der extremistischen Siedler in vielen Bereichen des Staates Macht verschaffte, wurde der humanistische Charakter des Landes sehr stark verändert. Extremisten üben heute starken Einfluss auf Regierung und Armee aus. Noch ist uns die arabische Welt mit ihrer rückwärtsgewandten hasserfüllten Politik in ihrem Wettlauf ins Mittelalter weit voraus, doch Israel scheint aufzuholen.

Frauen
Weder in der traditionell islamischen, noch in der orthodox jüdischen Gesellschaft sind Frauen entscheidungsfrei. Sie sind Besitz der Männer und deren Clans. Freie Partnerwahl gibt es nicht – die Eltern suchen Braut oder Bräutigam aus. Die Frau ist dem Manne untertan, er entscheidet. Ich will hier keine der vielen anthropologisch vielleicht interessanten Einzelheiten über die Stellung und die Behandlung der Frau in diesen zwei Kulturen beschreiben. Nur soviel sei gesagt, dass sich die Situation dieser jüdischen Frauen fast täglich verschlechtert. Sie sollen gezwungen werden in Autobussen nur hinten zu sitzen, nicht zusammen mit Männer auf dem selben Gehsteig zu gehen, ihr Erscheinungsbild wird laufend stärker als nicht bedeckend genug kontrolliert und kritisiert, die Möglichkeit einer jüdischen Burka könnte möglich werden, die Trennung zwischen Frau und Mann (pardon, Mann und Frau) soll immer einschneidender werden. Frauen sollen aus der Öffentlichkeit ganz verschwinden und weder gesehen noch gehört werden. Frauen die sich gegen Zumutungen dieser Art wehren, werden tätlich angegriffen, geschlagen, bespuckt und als Huren beschimpft. Aktivisten, die verbal und physisch auf Frauen eindreschen, kommen vor allem aus jiddisch sprechenden aschkenasischen Kreisen der Ultraorthodoxie. Frauenhass sephardischer und orientalischer Superfrommer scheint weniger entwickelt zu sein. Betrüblich ist die fehlende eindeutige Stellungsnahme haredischer Rabbiner der aschkenasischen Sorte. Der aschkenasische Oberrabbiner Israels, Jona Metzger, wurde darüber am Fernsehen interviewt. Er fand es schicklich, die Taten dieser Frauenhasser zu relativieren. Bisher haben sich fast ausschliesslich sephardische Rabbiner, wie das Knessetmitglied Haim Amsalem, ein wenigstens mir sehr willkommener und unheimlich sympathischer Querschläger der haredischen Welt, der sich ohne wenn und aber vor die verfolgten Frauen stellte, zur Verteidigung der Frauen aufgerafft.

Noch ist der Grad der Entwürdigung der Frau nicht auf muslimisches Niveau gesunken. Noch wurden meines Wissens keine jüdische Frauen wegen einem „Verstoss gegen die Familienehre“ getötet. Unser Hausarzt, selbst Kippaträger, der allerdings meine „linken und modernen“ politischen Ansichten völlig teilt, ist bedrückt. Die Haredisierung der israelischen Gesellschaft sei eine Schande für ganz Israel und gebe dem Judentum einen schlechten Namen. Er ist allerdings überzeugt, dass dieses relativ neue Phänomen gestoppt werden wird. Hoffentlich hat er recht.

Eines noch: in der muslimischen Gesellschaft scheint die Mehrheit Frauenunterdrückung gut zu finden und sich dieser zu widmen. Da sich dagegen niemand freiwillig äussert, bietet sich nur dieser Schluss an. Unter Israels Juden ist hingegen die Reaktion der Öffentlichkeit über diese Vorkommnisse gewaltig. Die Abneigung gegen die Ultra-Orthodoxie nimmt weiter zu, ganz besonders, seit sogar ein siebenjähriges Mädchen von diesen sexbesessenen Gottesfürchtern mehrfach bespuckt, beschimpft und mit Unrat beworfen worden ist.

Mein neuer Freund Avi, der im Shopping Center Lev Hamifratz in Haifa ein kleines Kaffeehaus betreibt und wirklich zuckerlose Gipfeli serviert, erklärte mir folgende Theorie, für Araber und allzu orthodoxe Juden geltend: beiden würden unter gewaltigem sexuellem Druck leiden. Sexuell aktiv dürfen sie erst nach Heirat mit der eigenen Frau werden – vorher kein Sex (das könnte ein Grund dafür sein, warum in diesen Kreisen so jung geheiratet wird). In einer nicht mehr ganz neuen Statistik fand ich vor Jahren die Information, dass 25% aller Kunden israelischer Prostituierten ultraorthodoxe Männer seien. Für muslimische Männer fand ich keine solche Statistik.

Ehre und Schande 
Der Begriff „Ehre“ und dessen Gegenstück „Schande“ sind die Grundsätze arabischer Kultur. Das Wort Respekt gehört dazu. In seinem hervorragenden Buch „The Closed Circle: An Interpretation of the Arabs“ (erschienen leider nur in Englisch, eines der wichtigsten Bücher zum Thema), beschreibt David Pryce-Jones wie diese Begriffe arabisches Denken und Handeln bestimmen. Hier zwei Zitate, die die überragende Wichtigkeit dieser zwei Worte in der arabischen Kultur demonstrieren:

“Lying and cheating in the Arab world is not really a moral matter but a method of safeguarding honor and status, avoiding shame,”

“Honor is what makes life worthwhile: shame is a living death, not to be endured, requiring that it be avenged.”

Die Suche nach Ehre oder deren Erhalt hat, so Pryce-Jones, vor allem anderen Vorrang. Frauen werden durch Väter und Brüder ermordet, weil sie dem gängigen Ideal der Ehre nicht entsprächen und (eingebildete) Schande über die Familie bringen. Generationen widmen sich der Blutrache, statt sich dem Aufbau einer besseren Zukunft zu widmen. Ehre und Respekt der eigenen Person oder dem eigenen Clan ist die Maxime dieser Welt und somit einer der Hauptgründe, ihres zivilisatorischen Stillstandes.

In einer kleinen Broschüre, die mir 2008 von arabischen Schülerinnen des Seminars für Englischlehrerinnen im Beit Berl College geschenkt wurde, beschrieben einige dieser entzückenden Studentinnen ihre Vorstellung über ihren künftigen Ehemann. Respekt und Ehre war das tragende Element. Sie erhoffen (nicht fordern) Respekt und dessen Einverständnis ihr Studium fortsetzen oder einen Beruf ausüben zu dürfen (Uris Tagebuch 1.7.2008).
 
Erfolge in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft
Dazu sollte ein weiteres Zitat von David Pryce-Jones genügen:

“In the years of independence, the Arabs have so far made no inventions or discoveries in the sciences or the arts, no contribution to medicine or philosophy.”

Im Vergleich mit Israel, einem Staat, der in den über sechzig Jahren seiner Existenz der Welt Gewaltiges in Wissenschaft, Kunst, Medizin und Philosophie beigetragen hat, sollte obiges Statement eigentlich eine Herausforderung an die arabische Welt sein. Doch das kratzt sie nicht – nicht einmal das Ehre/Schande Syndrom klickt ein, das für einmal wirklich am Platz wäre. Allgemeinheit und das Öffentliche wird in der arabischen Welt meist negativ empfunden, denn man sieht sie als Bedrohung des Clans und der Familie. Das Ehre/Schande Syndrom ist persönlich oder gehört der Familie. Der Staat oder das Dorf gehören nicht ihr, sondern dem jeweiligen Machthaber, sei er König oder ziviler Diktator, der seine Ehre (sprich seine Macht und den damit gestohlenen Reichtum) vor seinen Feinden (sprich Konkurrenten) meist mit viel Blutvergiessen verteidigen muss – eine Tatsache, die ein Blick in die Nachkriegsgeschichte arabischer Staaten mit Leichtigkeit bestätigt. Das Ehre/Schande Syndrom gilt für die Person, nicht dem Zustand des Landes, der ihn meist nur soweit interessiert, wie er seine persönliche Ehre (sprich Besitzstand und Einfluss) erhalten kann. Obiges Zitat von David Pryce-Jones wird damit bestätigt.


(Dieser Artikel wurde ins Journal21 übernommen. Mein Freund Reinhard Meier, emeritierter NZZ-Redaktor, hat meine Zeilen redigiert. Da ich nun mal in keiner Weise ein Thomas Mann bin, der handschriftlich Druckreifes aufs Papier bringen konnte, bin ich Reini höchst dankbar für sein Arbeit.)

4 Kommentare:

karl hat gesagt…

Shalom meine Freunde.
Ich kenne Israel seit über 63 Jahren. Die <<Orthodoxen
waren schon immer ein Störfaktor in Israel. Wenig
arbeiten ,aber viele Kinder machen die auf Kosten des Staatas ernährt
werden. Karl

Heimo Geske hat gesagt…

@ Karl - Orthodoxe sind nicht gleich Orthodoxe - es gibt da gewaltige Unterschiede & unterschiedliche Strömungen siehe auch aus Lila's blog: http://rungholt.wordpress.com/2011/12/28/walfang-in-der-schweiz/#comment-42703

Viele Kinder machen sehe ich allerdings als positiv, da diagnostiziert wird, daß - wie ich die Tage las - ca. 2020 die arabische Bevölkerung im Kernland Israels die Mehrheit bilden könnte

Lila hat gesagt…

Mit den "Orthodoxen" meint Karl doch bestimmt die Ultra-Orthodoxen? Die Orthodoxen arbeiten nämlich, zahlen Steuern, gehen zur Armee und können wohl kaum als Störfaktor bezeichnet werden.

Uris Tagebuch hat gesagt…

Lila und Heimo, natürlich habt ihr recht, Moderne Orthodoxe in Israel arbeiten, zahlen Steuern und dienen in der Armee. Es gibt sogar einige wenige Ultraorthodoxe, die das tun. Was Kinder betrifft:

Ultraorthodoxe und auch einige normal Orthodoxe (d.h. deren Ehefrauen) bringen durchschnittlich 8 Kinder zur Welt. Dieser statistische Wert der israelischen Araber ist inzwischen auf 3,6% gesunken, Tendenz weiterhin sinkend. Das hat u.a. mit ihrem steigenden Wohlstand und Ausbildung zu tun. In Israel gibt es 10% Ultraorthodoxe Juden und 20% arabische Bürger. Zudem ist die durchschnittliche Geburtenzahl Israels mit leicht über 3% noch immer weit höher als alle Zahlen der westlichen Welt. Deshalb glaube ich schon lange nicht mehr an die von dir genannte Prophezeiung.

Viele Kinder machen mag für den Moment des Machens angenehm sein, doch ein Plus ist es erst dann, wenn die Familie diese auch ehrenhaft ernähren, ausbilden und als nützliche Bürger erziehen kann. Das ist in der Ultraorthodoxie kaum der Fall - wenigsten nicht in Israel - für die der Staat, wie ich las, fast soviel ausgibt für die Armee. Das Ganze ist nur in Israel zu einem Problem geworden. In allen westlichen Länder müssen Ultraorthodoxe arbeiten und sich selbst ernähren.