Die oft gestellte Frage
Wenn auf Besuch in der Schweiz wird mir oft die Frage
gestellt, ob ich nicht lieber in der Schweiz wohnen würde. Meine
Standardantwort darauf ist meist: „Ich liebe die Schweiz, ihre Berge, die
frische Luft, die guten Restaurants und die Ruhe. Und vor allem meine Familie
und Freunde dort. Aber leben in Israel ist weit interessanter“. Es geht täglich
„um die Wurscht“. Kurz gesagt, in Israel geht es auch weiterhin um dem Aufbau,
die Gestaltung und das Überleben eines modernen demokratischen Staates in einer
extrem feindlichen Umwelt, in der Schweiz geht es zu einem gross Teil um
Besitzstandwahrung, auch wenn dieser zu wahrende Besitz wahrlich beeindruckend
ist. Das soll kein Urteil sein, sondern nur eine Beschreibung des heutigen
Zustandes, die, so gesehen, durchaus von einem gewissen Neid motiviert sein
kann. Denn „solche Sorgen möchte ich haben“, sagen viele Israel.
Keine Bibiwahlen
Was heute geschah, wird in die Geschichte eingehen. Ich
hatte gestern Abend gerade vier Zeilen unter dem Titel „Bibiwahlen“ geschrieben
und wollte diesen Tagebucheintrag heute früh vervollständigen. Früh morgens las
ich als erstes Jacques Ungar’s
Bericht im Tachles online. Jacques hat seine Nase immer ganz zuvorderst. Die Knessetwahlen
seien abgesagt und stattdessen sei Kadima mit seinem neuen Chef Shaul Mofaz Nethanyahu’s
Regierung beigetreten. Das wiederum bestätigt meine weiter oben geschriebene
Aussage in Israel sei das Leben interessanter, denn diese Meldung ist umwerfend.
Ein politischer Geniestreich.
Jetzt kommen Hoffnungen hoch, Prioritäten können neu
gesetzt werden und die ausserordentlichen finanziellen Ergebnisse der
israelischen Wirtschaft und die hohen Steuern von Israels arbeitenden Bürgern würden
wirklich denen zugute kommen, die sie erarbeitet haben und nicht zur Förderung
haredischer Kinderproduktion und Arbeitsscheu missbraucht werden.
In den Medien und unter Politikern wird geflucht und
gelobt. Ich selbst wunderte mich erst, dann aber, seit ich schon lange der
Meinung war Kadima (und auch die Arbeitspartei, die sich noch immer ziert)
müsse Regierungsverantwortung übernehmen, bevor Nethanyahu unter dem Druck der
Rechtsextremisten und der Ultraorthodoxen das Land in eine Zukunft führen
würde, an die ich nur mit Schaudern denken kann – da habe ich mich sogar
gefreut.
Eines muss man Nathanyahu lassen: er ist ein ganz
schlauer und ausgefeilter Politiker, der das Angebot von Mofaz als Möglichkeit
sah, sich aus den Klauen vor allem der das Staatsbudget schädigenden Ultraorthodoxie
zu lösen und den Einfluss der Siedler zu schwächen. Hoffentlich sehe ich das
richtig. Ob er die Frommen für vierzig Jahre in die Wüste schicken und ohne sie
Regierungspolitik gestalten wird, werden wir sehen.
Zwei Bedingungen hat Nethanyahu von Mofaz akzeptiert:
Das Tal-Gesetz, mit dem der Staat das haredisches Drückebergertum vor Arbeit
und Wehrdienst aktiv unterstützt, weil er (und zahlreiche Vorgänger) sich in
die koschere Mausefalle ultraorthodoxer Parteien hat fallen lassen, soll
revidiert werden. Die zweite Bedingung ist die Revision des Regierungssystems.
Was damit gemeint ist, ist nicht ganz klar: das unmögliche Wahlsystem Israels,
in dem es keine Mindestgrenze, sagen wir von fünf Prozent der Stimmen, einer
Partei erst ermöglicht, überhaupt in die Knesset einzuziehen. Oder vielleicht
die Organisation der Regierung selbst, z.B. einer stark limitierten Zahl
Minister, die den Kuhhandel zu Koalitionsbildung etwas limitierten könnte.
Nethanyahu hat jetzt neu eine Knessetmehrheit von 94
Sitzen. Ultraorthodoxe Parteien (Schas 11, United Torah 5) von gesamthaft 16
Sitzen könnten problemlos aus der Koalition entfernt werden, diese würde nicht
weniger stark bleiben. Auch auf Lieberman’s rechtsextreme Israel Beitenu (15
Sitze) könnte verzichtet werden, für sein Amt als Aussenminister gibt es weit
geeignetere und vielleicht sogar höflichere Leute, vor allem in der Kadima.
Doch wird er noch für innenpolitisches gebraucht.
Sollte sich im Laufe der kommenden Wochen und Monate
tatsächlich eine Regierung resistent gegen religiöse Erpressungen und vielleicht sogar politischem Druck aus Siedlerkreisen entwickeln, könnte das
für die Arbeitspartei der Ansporn sein, ebenfalls der Regierung beizutreten.
Alles was von ihrer Vorsitzenden bisher zu hören war ist reinste politische Heissluft,
genau so wie vor erst zwei Wochen die vielzitierte Feststellung Mofaz’ über
Nethanyahu den Lügner. Auch wenn’s stimmt: Politik ist eben Politik. In Israel
wie in anderen demokratischen Staaten.
Jetzt bleibt nur noch zu hoffen, dass die Abmachungen zwischen Nethanyahu und Mofaz, die in deren Einzelheiten noch nicht bekannt sind, auch zufriedenstellend umgesetzt werden.
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