Samstag, 27. Oktober 2012

Jerusalemer Hypotheken 1918 und Friedrich Dürrenmatt



Ich wühlte wieder einmal in Friedrich Dürrenmatts "Zusammenhänge" (Arche 1976) und dachte etwas über seine Gedanken über Israel zu schreiben, denen das grosse kleine Buch gewidmet ist. Noch heute schätze ich diesen humorvollen und umfassend kreativen Mann, der im Zweiergespann mit dem sauertöpfischen Max Frisch die damalige Schweizer Literaturszene beherrschte. Da erinnerte ich mich vor gut zehn Jahren über Dürrenmatt geschrieben zu haben und fand untenstehenden Tagebucheintrag auf einer Sicherheitskopie. In 2003 war ich noch kein Blogger, meine Tagebuch lesenden Freunde bekamen jeden Eintrag einzeln per e-mail zugestellt. Der erste Teil meines Artikels ist die Geschichte einer von Lea betreuten alten Dame namens Sarah (i.A.), die gerade heute wieder Zustände in Erinnerung ruft, wie wir sie eigentlich gerne hätten und, ich könnte mir vorstellen, es im Ruhigen und Diskreten vielleicht noch immer gibt.

Persönlich bin ich Dürrenmatt nur einmal nahe gekommen, als er am 22. November 1990, zusammen mit Vaclav Havel in einer Bundeskarosse sitzend, mich an der Ecke Seestrasse/Bahnhofstrasse in Rüschlikon fast überfuhr. Er war auf dem Weg in Hotel Belvoir in Rüschlikon, wo er dann seine höchst umstrittene Rede "Die Schweiz - ein Gefängnis" hielt. Hätten Uris Reflexe diesen nicht mit einem Sprung vom Fussgängerstreifen zurück auf's Trottoir gerettet, hätte diese Rede, wenn überhaupt, nur mit Verspätung gehalten werden können. Das Auto und zwei weitere, also der gesamte Konvoi - mussten aus Sicherheitsgründen mit Höchstgeschwindigkeit fahren - so wurde mir etwas später erklärt. Soweit, mein Einfluss auf Dürrenmatts Karriere.

Aus Uris Tagebuch 7.1.2003

Vor fast Hundert Jahren 

Meine Lea macht für die Stadt Zichron Ya’akov Sozialarbeit und betreut eine neunzigjährige Dame namens Sarah, Amerikanerin, aber in Jerusalem geboren. Lea ging mit ihr in ein Kaffeehaus an der Mejasdim Strasse zum Zvieri und ich ging mit. Sarahs Langzeitgedächtnis ist noch voll da und sie erzählte aus der Zeit, als sie sieben Jahre alt war, das muss um 1918 gewesen sein. Ihre Eltern seien sehr arm gewesen, hatten aber Gelegenheit in Jerusalem an der Agrippas Strasse beim Machane Jehuda Markt ein kleines Haus zu bauen. Ein Charedi aus Mea Schearim offerierte ihrem Vater, so erzählte sie, eine Hypothek für ein Jahr zu 18% offiziellem Zins plus nochmals 24% Zins „unter dem Tisch“, wie sie sich ausdrückte. Sarah erklärte nicht, warum ihr Vater auf diese Bedingungen einging, doch nachdem das Jahr um war bestand der Charedi auf die volle Rückzahlung mit dem ganzen Zins, was der Vater nicht konnte. Die Familie habe geweint und der fromme Geldverleiher schlug vor, der Vater solle seine Tochter auf die Strasse betteln schicken. Doch dann sei ein Wunder geschehen. Zwei Tage später habe es an der Türe geklopft. Es sei ein Araber aus Bethlehem gewesen, mit Namen Habib Salem. Er habe gehört, sagte er, die Familie sei in Not und brauche eine Hypothek. Er wolle helfen und offerierte eine Hypothek für fünf Jahre zu minimalem Zins. Der Vater habe dieses Darlehen pünktlich zurückbezahlt und das Haus steht noch heute – im heutigen Herzen der Stadt Jerusalem, Agrippas nahe der King George. Solche Initiative  arabischer Menschen findet man bis heute, doch hört man dieser Tage eher von Lösungen medizinischer Probleme wie Implantationen. Da funktioniert es in beide Richtungen: arabische Nieren werden Juden eingepflanzt, jüdische Lebern gehen in arabische Bäuche. Und immer mit vollem Einverständnis, ja auf Initiative der Spenderfamilie und im Bewusstsein mit einer solchen lebensrettenden Massnahme eine politische Aussage gemacht zu haben. 

Dürrenmatt und Israel
In meiner Büchersammlung bin ich auf ein schon vergessenes Buch gestossen: Friedrich Dürrenmatt’s „Zusammenhänge“, Essay über Israel. Eine Konzeption, herausgekommen 1976 beim Arche Verlag in Zürich. Es ist in den heutigen Tagen wieder hochaktuell, Dürrenmatt schrieb über Tatbestände und Beobachtungen, die genau so gut in die gegenwärtige Zeit passen würden. Er war damals Staatsgast Israel’s und hatte viele Reden zu halten. Er beschrieb, wie er mitten in der Nacht die Vorrede zur noch in der Schweiz geschriebenen Hauptrede für den nächsten Tag umschrieb, um dann herauszufinden, dass sich die Situation schon wieder geändert hatte und er mit der neuesten Fassung dieser Vorrede zur eigentlichen Rede, der Zeit hinterherlief. Hier ein paar Kostproben aus diesem kostbaren Buch:

Über das Wort Schalom (Friede): „In Wirklichkeit wird jedoch schon das Wort Friede so oft ausgesprochen, dass es beinahe einer Kriegserklärung gleichkommt.“

Über Ideologie:So klar zuerst der Unterschied zwischen Existentiellem und Ideologischem schien, so widersprüchlich ist er jetzt geworden.“ (Das sollten sich die ideologischen Israel- und Judenkritiker hinter die Ohren schreiben)

Über die Notwendigkeit eines jüdischen Staates: „Gesetzt, ich unternähme es, einem Russen, einem Franzosen, einem Schweizer usw. gegenüber von der Notwendigkeit ihres Staates zu reden, würden sie, so angesprochen, mich verständnislos anglotzen. Ihre Staaten brauchen keine Bestätigung ihrer Notwendigkeit......... Die  Lage des Staates Israel: Er ist zwar, aber er scheint vielen nicht notwendig zu sein, je mehr und mehr störend, man wäre froh, wenn er nicht wäre, auch jene wären glücklich über seine Nichtexistenz, die seine Existenz bejahen“. (beim Letzteren fallen mir Schweizer Juden ein).

Über das jüdische Volk und den jüdischen Staat: „Das jüdische Volk überlebte allein durch die Permanenz seiner Kultur während fast dreitausend Jahren. Seine Staatsgründungen waren Episoden, seine bleibende Konstante war nicht der Staat, sondern das Volk.“ (Das wird einigen Zionisten nicht gefallen).

Christen und Juden: „Als Christ zu Juden sprechen und als Jude einem Christen zuhören zu müssen, geht nicht ohne Verlegenheit ab, nicht etwa weil Sie Juden sind, sondern weil ich Christ bin; wobei die Verlegenheit dadurch entsteht, dass ich zwar ein schlechter Christ sein kann oder keiner, ein Kommunist oder Atheist, Sie aber Jude bleiben müssen, auch wenn Sie Kommunist oder Atheist sind. Sie können bestenfalls ganz schlechte Juden sein, Zionisten, und dann sind Sie erst recht gute Juden. Doch diese Absurdität, derzufolge ich mich einem Zustand der Freiheit befinden soll, nicht das sein zu müssen, was ich bin, während Sie in einem Zustand der Unfreiheit zu verharren haben, das zu sein, was Sie sind ....“
Heute: „Das jüdische Drama ist nicht zu Ende, es beginnt von neuem. War vorher das Volk zu retten, ist nun die Rettung zu retten“.

Religion: „Der Jude und der Christ stehen immer in Unrecht Gott gegenüber, das verbindet sie, der Muslim und der Kommunist handeln mit Recht, gemäss Allahs Willen der eine, gemäss dem immanenten Gesetz der Gesellschaft der andere“. (Das waren noch Zeiten, Kommunismus war eine religiöse Macht).

Europa: „Die Schwierigkeit, heute in Europa für Israel Stellung zu beziehen, und die Isolation, in die dieser Staat geraten ist, hat verschiedene Gründe. Schämte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg, Antisemit zu sein, wurde man mit Stolz nach dem Sechstagekrieg Philosemit, wagt man nun erleichtert nach dem Jom-Kippur-Krieg, Antizionist zu werden. Kein Mensch ist heute mehr Antisemit, man versteht nur die Araber. Der Siegesrausch der Araber vor dem Sechs-Tagekrieg ist vergessen, vergessen die Sperrung des Golfs von Akaba durch Nasser, vergessen die Prahlereien Arafats, vergessen, dass jedermann den Angriff der Araber vermutete, vergessen der gewaltige Aufmarsch der ägyptischen, jordanischen und syrischen Truppen, ................... Vergessen das alles, die Juden hätten die Araber nur nicht ernst nehmen sollen, es war alles gar nicht so gemeint gewesen“. (Das trifft auf heute genauso zu, wie in den Siebzigerjahren).

Missbrauch der Sprache: „Man soll nicht den Namen Gottes missbrauchen, man soll nicht den Namen des Volkes missbrauchen, man soll keinen Namen missbrauche, man soll die Sprache nicht missbrauchen“.

Gott und die Theologen: „Der Fehler der Theologen ist oft, dass sie zuviel reden. Gott liegt gänzlich ausserhalb jeder Rede ................“

Palästinenser: „Ohne Israel wären die Palästinenser Jordanier und Ägypter geblieben, sie sind nur dank Israel Palästinenser.“

Israel und seine Freunde: „Daran muss sich die Politik des Staates Israel halten, was immer für Opfer auf ihn zukommen: dass seine Notwendigkeit immer glaubhafter dadurch werde, dass sie als eine gerechte Sache erscheine. Daran haben wir zu arbeiten, Ihr, die Ihr in diesem Staat lebt, und wir, die wir Eure Freunde sind.“ (Vielleicht ist das der Massstab, an dem Israels Freunde zu messen sind).

Zum Abschluss: „Was uns für dieses Land streiten lässt, ist nicht seine Notwendigkeit, die sich mit jeder Dialektik (die in Wahrheit Sophistik ist) begründen lässt, sondern die Kühnheit seiner Konzeption: In ihr wird die Kühnheit des Menschseins sichtbar. Israel ist damit ein Experiment unserer Zeit, eine ihrer gefährlichsten Belastungsproben. Nicht nur die Juden, auch die Araber werden mit diesem Experiment getestet, mehr noch, wir alle.“ 

Das waren ein paar aus dem Buch gezerrte Zitate – im Zusammenhang gelesen, wären sie noch interessanter, als es sich hier liest. Wohlgemerkt, diese Zeilen stammen aus 1976. Als wäre es heute. Friedrich Dürrenmatt war ein gewaltiger Schreiber und Maler. Er fehlt.

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