Montag, 24. Mai 2010

Rückschritte und ein wirklich gutes Buch

So wie sich die in den ersten Jahrzehnten erfolgreichen zionistischen Errungenschaften Israels wie der Kibbuz, die vorbildliche und fortschrittliche Landwirtschaft (mit der Israel noch bis heute in Drittweltländern Entwicklungshilfe leistet) und das phänomenale Schulsystem bis heute entwickelt haben, so entwickelt sich heute die israelische Gesellschaft als ganzes.

Auch wenn es heute noch einige Kibbuzim gibt, denen es wirtschaftlich so blendend geht, dass sie sich die Erhaltung des traditionellen Kibbuzlebens leisten können – als ganzes gesehen, hat dieses wunderbare und wirklich sozialistische Projekt bewiesen, dass es langfristig gesehen, sogar in einer Demokratie nicht funktionieren kann. Schade.

Die israelische Landwirtschaft ist noch immer vorbildlich und fortschrittlich, ja sogar weltweit führend – doch ihr Anteil an Israels BNP ist weniger als 5%, während es um etwa 60% des totalen israelischen Wasserverbrauchs konsumiert (früher waren es sogar um die 80%).

Das israelische Schulsystem, einst Stolz der Gründerväter und der ersten Jahrzehnte dieses Staates der Juden, ist seit der Machtübernahme der israelischen „patriotischen“ Rechten in den siebziger Jahren unter die Schlechtesten der entwickelten Welt gesunken. Erzieherische Prioritäten – mehr Patriotismus statt Sprachen, Lesen und Rechnen sind Gründe dafür. Trotzdem ist es erstaunlich, dass gerade oder trotzdem die israelische Wirtschaft blüht, sich entwickelt und das Land als besonders innovativ gilt. Nur hat Israel heute den in entwickelten Ländern niedrigsten Anteil von Werktätigen unter seiner arbeitsfähigen Bevölkerung – 52% war die letzte von mir gelesene Zahl, 20 – 30% weniger als in anderen Industrieländern. Die deftig wachsende Geburtsrate der rechts-nationalistischen und vor allem der ultra-orthodoxen Bevölkerung in Israel und den besetzten Gebieten ist der Grund dafür – allen bewusst und von kaum jemandem bekämpft. Ich und andere trauern um Tommy Lapid s.A. und seinen Freunden der heute leider defunkten Shinui-Partei nach, der ersten israelischen Partei, deren Programm tatsächlich eine völlige Trennung von Staat und Religion forderte und diese, als Regierungsmitglied, auch versuchte soweit wie möglich umzusetzen. Noch nie war der zersetzende Einfluss extremistischer religiöser Kreise so stark wie heute, nicht nur wird die Staatskasse von der Ultraorthodoxie geplündert und deren gewalttätige Jugend und ihre machthungrigen Rabbiner haben den Platz der früheren palästinensischen Intifada eingenommen. Diese Kreise schaden der Demokratie des Landes, einer Regierungsform, die sie genau so wenig anerkennen, wie ihre Geistesverwandten, die Islamisten. Zwar ist zu hören, dass heute schon mehr haredische Männer sich in die Wirtschaft eingliedern wollen, es sind gelegentlich Presseartikel zum Thema zu lesen – doch einige Dutzend Arbeitswillige ändern die negative Statistik nicht. Genau so wenig wie das Battalion haredischer Soldaten, von denen, wie mir einer von ihnen verriet, viele nicht einmal Haredim seien, sondern einfach bärtig religiös – Schomrei Mizwot.

Buchempfehlung

Mein Freund Urs Emmenegger, Filmemacher in Zürich, sandte mir ein Buch, das zwar schon 2004 erschienen ist, jedoch gar nichts von seiner Aktualität verloren hat. Matt Rees: “Cain's Field”, Faith, Fratricide, and Fear in the Middle East, ist ein Buch, das auf sehr emphatische Weise mit jeweils vier Beispielen die Komplexität der Situation der Palästinensern und Israeli beschreibt. Lange nicht alle ihrer Probleme beruhen auf dem Konflikt zwischen den Beiden. Matt Rees, von dessen bisher vier Krimis ich schon drei gelesen habe, beschreibt in diesen palästinensisches Leben in der besetzten Westbank und im unbesetzten Gazastreifen in Romanform. „Cain’s Field“ beschreibt dasselbe, zusammen mit Fällen in Israel, als Sachbuch, in hervorragender journalistischer Weise, mit Sachverstand, scharfsichtig, emphatisch und menschlich. Es sind je vier Kapitel palästinensischem und israelischem Leben gewidmet. Anhand persönlicher Beispiele werden Korruption, interne Gewalt und Terror innerhalb der palästinensischen Welt wiedergeben, die den zionistischen Staat Israel nur als Mäntelchen benutzt, unter dem seit der Rückkehr Arafats und seiner „Tunesier“ in 1994 nach Gaza, seine Machtspiele und den milliardenschweren Betrug an seinem eigenen Volk betrieb. Er beschreibt detailliert die Machtspiele Arafats und seiner völlig korrumpierten Anhänger (Abu Mazen wird auch erwähnt), denen es nur um Geld und Einfluss ging, ohne Rücksicht auf die Wohlfahrt „seines“ Volkes. Er beschreibt, wie der „Widerstand gegen Israel“ der bewaffneten Gangs dazu dient, deren schwarze Geschäfte, Schmuggel und Betrügereien zu vertuschen. Rees beschreibt das Leben in einem Flüchtlingslager in Gaza und schreibt über Palästinenser, die versuchen gewaltlos eine Änderung der Situation herbeizuführen, wobei sie von Arafats Fatah, Hamas und öfters auch von israelischen Behörden und der Armee behindert wurden und wohl auch noch werden.

Unter seinen vier Beschreibungen über Israel beeindruckte mich seine Schilderung über die Benachteilung der Holocaustüberlebenden, ganz besonders jener, die als Folge ihrer Erlebnisse für Jahrzehnte in psychiatrischen Kliniken verschwanden, wo sie, statt behandelt und geheilt zu werden, medikamentös still gehalten wurden. Die eindrückliche Beschreibung engagierter Ärzte, die es fertig brachten diesen Zustand durch ihr langjähriges Engagement zu ändern berührte mich stark. Obwohl ich vieles über die arrogante ideologische Einstellung politischer Kreise jener Zeit zu den Holocaustüberlebenden weiss (sie entsprachen nicht der Vorstellung des neuen israelischen Menschen, dem theoretischen Modell eines Juden, der sich wehrt statt sich widerstandslos vergasen zu lassen, einer der kämpft und körperliche Arbeit verrichtet), war ich erschüttert über diesen Bericht. Aber auch heute noch werden diese Opfer Hitlers, obwohl heute politisch anerkannt, von den Bürokraten der Regierung betrogen und sehr oft um ihre Entschädigungen aus Deutschland gebracht.

Rees schreibt auch über das oben angesprochene Problem der Ultraorthodoxie gegenüber dem Staat – ein Thema, über das ich selbst ein Buch schreiben könnte und ich im Tagebuch schon oft genug behandelt habe.

„Cain’s Field“ ist eines der besten Bücher zum Thema Israel und die Palästinenser, eine journalistische Meisterleistung, aber leider nur in englischer Sprache erhältlich. Komisch, die Krimis von Matt Rees wurden alle ins Deutsche übersetzt und verkaufen sich sehr gut, dieses bemerkenswerte Sachbuch jedoch nicht. Schade, doch meine Empfehlung steht.

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